*J.W. Goethe, Faust I.
Quöllfrisch unterwegs in Müstair GR.
Der Flurgang von Gran Alpin in Müstair widmet sich einem meisterlichen Minnesänger der Lüfte, dem der Bergackerboden zum Brüten bereitet werden soll: der Feldlerche.
Weit ist der Weg ins Val Müstair von Zürich aus, aber diesmal kann ich gleichentags anreisen, da der Flurgang von Gran Alpin zum Thema «Förderung der Feldlerche mit Weitsaat» erst um halb zwei im Klosterhof St. Johann beginnt. Wieder bleibt keine Zeit für Museum und Klosterkirche im UNESCO-Weltkulturerbe, das sich im UNESCO-Weltnaturerbe Biosfera Val Müstair befindet. Ob all der inflationären Welterbe-Ernennungen beschleicht mich immer mehr das mulmige Gefühl, dass unsere «Normalwelt» längst untergegangen ist und wir quasi zugleich Erbschleicher und Verwalter, Bock und Gärtner, Ranger und Wilderer im globalen Welterbepark sind.

Der Vogel der Agrarlandschaft galt als Delikatesse
«Die Lerchen zu beschreiben ist überflüssig, denn grösser und schlanker als ein Sperling, doch mit ähnlichem Gefieder, ist der Vogel so häufig, dass niemand ihn übersehen kann», schrieb der als Begründer der Ornithologie Mitteleuropas geltende Naturforscher Johann Friedrich Naumann (1780-1857) im 19. Jahrhundert. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Allerweltsvogel Feldlerche (Brach-, Korn, Acker-, Saat-, Sing-, Himmelslerche) landesweit häufiger als der Sperling (Meyer’s Lexikon 1905-09) und galt als christliches Symbol seelischer Erhebung über die irdische Existenz. Wegen seines Himmelstrebens Symbol Weil das Männchen hoch am Himmel singt, wird der lateinische Name Alauda arvensis auch als «Lauda deum» (Lobe Gott) gedeutet. Da passt ja der Klosterhof bestens als Treffpunkt.
Meyers Grosses Konversationslexikon 1905-09: [Die Feldlerche] bevorzugt das bebaute Feld, läuft und fliegt vortrefflich, singt anhaltend, lebt nur nach der Brutzeit gesellig, nistet meist auf Getreidefeldern und legt oft schon im März 5-6 grüngelbliche oder rötlichweisse, grau oder graubraun gefleckte Eier, die von beiden Geschlechtern in 13 Tagen ausgebrütet werden. In guten Jahren nistet sie dreimal bis Juli.

Brehms Tierleben: Uns gilt die Feldlerche als Frühlingsbote; denn sie erscheint zur Zeit der Schneeschmelze, bisweilen schon Anfang Februar, hat zu Ende dieses Monats meist bereits ihre Wohnplätze eingenommen, verweilt auf ihnen während des ganzen Sommers und tritt erst im Spätherbste ihre Winterreise an, die sie bis Südeuropa, höchstens bis nach Nordafrika führt. Sie ist ein unsteter Vogel, der selten lange an einem und demselben Ort verweilt, vielmehr beständig hin- und herläuft, hin- und wiederfliegt, sich mit andern ihrer Art streitet und zankt und dazwischen lockt und singt. Sie geht gut, bei langsamem Gange nickend, bei raschem Laufe fast wie ein Strandläufer, fliegt ausgezeichnet, je nach dem Zwecke, den sie zu erfüllen trachtet, sehr verschiedenartig, bei eiligem Fluge mit bald angezogenen, bald wieder schwirrend bewegten Schwingen in weiten Bogenlinien dahin, im Singen endlich in der allbekannten langsamen, oft schwebenden Weise mit gleichmässigen Flügelschlägen, die sie höher und höher heben. Auf dem Boden zeigt sie sich gern frei, stellt sich deshalb auf Erdschollen, kleine Hügelchen oder Steine, zuweilen auch auf die Spitzen eines Strauches, Baumes oder Pfahles, und behauptet solche Lieblingsplätze mit zäher Beharrlichkeit. Der Lockton ist ein angenehmes »Gerr« oder »Gerrell«, dem ein hellpfeifendes »Trit« oder »Tie« zugefügt wird. Bei dem Neste vernimmt man ein helles »Titri«, im Ärger ein schnarrendes »Scherrerererr«. Ihren allbekannten Gesang, der Feld und Wiese der Ebene und des Hügellandes, selbst nicht allzu nasse Sümpfe, in herzerhebender Weise belebt, beginnt die Lerche unmittelbar nach ihrer Ankunft und setzt ihn so lange fort, als sie brütet. Vom frühesten Morgengrauen an bis zur Abenddämmerung singt sie, ein um das andere Mal vom Boden sich erhebend, mit fast zitterndem Flattern allmählich höher und höher aufsteigend, dem Auge zuweilen beinahe entschwindend, ohne Unterbrechung, ausdauernder als jeder andere Vogel, beschreibt dabei weite Schraubenlinien, kehrt allmählich zur Aufgangsstelle zurück, senkt sich mehr und mehr, stürzt mit angezogenen Flügeln wie ein fallender Stein in die Tiefe, breitet hart vor dem Boden die Schwingen und lässt sich wiederum in der Nähe ihres Nestes nieder.
Auf nabu-dueren.de heisst es zum «Vogel der Agrarlandschaft»: Die Feldlerche bevorzugt ebene Landschaften oder flache und sanft geschwungene Hügel, da sie freie Sicht braucht, um mögliche Feinde erspähen zu können. Daher hält sie auch von Hecken und Waldrändern für gewöhnlich einen gewissen Mindestabstand. Um ungestört ihre Bodennester bauen, sich verstecken und ihre Nahrung zwischen den Gräsern und Wildkräutern suchen zu können, sollte die Vegetation nicht höher als 50 cm und nicht zu dicht sein. Ein Mosaik aus verschiedenen Landnutzungen und Ackerfrüchten ist ideal für die Feldlerche, da sie so in der Brutsaison zu verschiedenen Zeiten ausreichend Flächen mit geeigneter Vegetationsstruktur finden kann.
Der Ruf als Lobsänger Gottes konnte nicht verhindern, dass die delikate Feldlerche zu Millionen auf den Tellern landete. Wir hatten doch da mal das Beispiel der Amerikanischen Wildtaube (hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag «Alternative Proteine von Welt: brewbee – mal geschnetzelt, mal gehackt»). In «Luise Schäfers neues Kochbuch» von 1909 finden sich diverse Rezepte, gebraten oder mit pikanter Sauce. Explizit heisst es: Sie werden n i c h t ausgenommen. Alleine zur Leipziger Herbstmesse 1820 seien 404’000 Lerchen geliefert worden.

In der «Jagd-Zeitung» vom 30. Juni 1875 ist unter dem Titel «Ueber Lerchenjagd und Lerchenfang» zu lesen: Wenn ein Feinschmecker unser gesammtes in Deutschland einheimisches Flugwild durchkosten und sein Urtheil abgeben soll, welches das feinste und wohlschmeckendste unter demselben ist, so wird es ihm in der That nicht schwer werden, trotz der Sentenz: de gustibus non est disputandum, den nicht zu bestreitenden Ausspruch zu thun, dass unsere Waldschnepfe, Scolopax rusticula, und unsere Feldlerche, Alauda arvensis, die grössten Leckerbissen sind, welche uns die produzirende Naturkraft und die Jagd liefert.
Auch in Volièren und winzigen Käfigen wurde die possierliche Feldlerche gesteckt, wo sie sich mehrere Jahre halte, sehr zahm werde und kleinere Lieder zu pfeifen lerne. Johann Friedrich Naumann: «Am besten thut man, ihnen auf einer kleinen Drehorgel kurze musikalische Stücke vorzuleiern, die sie herrlich nachpfeifen lernen und deren mehrere behalten.»

Es gab aber auch schon früh Vogelschützer wie den Zoologen Christoph Gottfried Andreas Giebel (1820-1881), der in seinem «Vogelschutzbuch» von 1868 festhielt: Die Feldlerche ist für unsere Acker- und Graskultur einer der allernützlichsten Vögel. Da sie zwei bis dreimal Junge aufzufüttern hat, so ist ihr Bedarf an Geziefer ein unberechenbar grosser und nicht minder der herbstliche Bedarf an Sämereien. Ich habe hunderte von Mägen der in Halle auf den Markt gebrachten Lerchen geöffnet und alle ohne Ausnahme nur von Unkrautsamen mit ganz vereinzelten Käferresten strotzend gefüllt gefunden, muss also auch im Herbst die Lerchen für sehr nützlich erklären. 1888 wurde die Lerche im Deutschen Reich geschützt.
Als ich im eingangs abgebildeten Band 9 von Brehms Tierleben bei den Sperlingsvögeln nach der Feldlerche suche, fällt mir ein Zeitungsausschnitt mit einer bildlosen Kurzmeldung aus dem Jahr 2000 entgegen:
Der Letzte seiner Art.
Rio de Janeiro – Der seltenste Vogel der Welt ist verschwunden. 15 brasilianische Umwelt-Experten machten sich gestern auf den Weg in den Bundesstaat Bahia, um den letzten frei lebenden kleinen blauen Ara (Cyanopsitta spixii) zu suchen. Der Papagei sei zuletzt vor 55 Tagen von einem Bauern gesehen worden, hiess es.
20 minuten, 30. 11. 2000
Im angebrochenen dritten Jahrtausend wird die Feldlerche hierzulande weder verspiesen noch gefangengehalten, trotzdem aber wird sie es wohl nicht leicht haben, im grossen Welterbepark des Grossen Immermehrmeers zu überleben. Ihr Bestand gilt als verletzlich (VU = vulnerabel). Du hast keine Chance, also pack sie! Das Postauto der Engadin–Meran-Linie über den Ofen-Pass hält direkt vor dem Kloster St. Johann.
Immerhin: Kleines Publikum für einen grossen Sänger
Im Innenhof haben sich vier Personen versammelt: Johannes Fallet, der Pächter des 1996 auf Bio umgestellten Klosterguthofes, Isidor Sepp, Bio-Bauer und Lama-Flüsterer vom Bio-Hof Puntetta, Val Müstair sowie Patrick Marti und Erica Nicci von der Regionalstelle Graubünden der Vogelwarte Sempach, die mit der nicht anwesenden Judith Zellweger-Fischer den Fachbericht «Förderung der Feldlerche im Val Müstair. Pilotversuch im Bergackerbau.» zu Handen der Biosfera Val Müstair verfasst haben.

Zusammen mit mir und der fast gleichzeitig ankommenden Chloé Berli von Gran Alpin, Yves Schwyzer, dem stellvertretenden Geschäftsführer und Leiter Natur & Landschaft von Biosfera Val Müstair, und den zwei lokalen Getreide-Produzenten Dorian Grond, Müstair, und Linard Tschenett, Santa Maria, begibt sich eine übersichtliche Gruppe von gerade mal neun Personen zu Fuss, zum nahen, bis auf die bunten Beikräuter noch grünen Gerstenfeld von Johannes Fallet, der hier die Feldlerche entdeckt hat. Zuvor aber erhalten alle noch einen Feldstecher mit legendärer Zeiss-Optik.

Patrick Marti stellt uns den Protagonisten-Vogel Feldlerche (VU) und seine Bodenbrüterkolleg:innen wie Wachtel (VU), Lerchenkönig (vom Aussterben bedroht) und Braunkehlchen (VU) vor sowie das in Val Müstair laufende Pilotprojekt zur Feldlerchenförderung im Bergackerbau. Zwischenzeitlich hockt ein Exemplar auf einem Bewässerungshydranten. Als Lebendbeweis, quasi. Anschauungsunterricht vom Feinsten. Vermutlich ist es dasselbe Männchen, das noch zwei, drei Mal singend hochfliegt, um sich dann urplötzlich steingleich fallen zu lassen und kamikazegleich abstürzend vom Erdboden verschluckt zu werden. Der Blick durch den Feldstecher verhindert den Fotobeweis. Bei einigen Fotos der Teilnehmer:innen muss mir irgendein Bändel vor die Linse geraten sein, denn die Ecken sind schwarz. Tschuldigung!

Tatsächlich ist immer wieder der erzählende Gesang der Feldlerche zu vernehmen. Ein endloser Fluss trillernder oder jubilierender Töne, so vogelwarte.ch. Oft als Frühlingsbote und Minnesänger der Lüfte gepriesen, steigt das Männchen in immer kleiner werdenden Spiralen steil empor, meist bis in 60 Meter Höhe (mancherorts ist die Rede von 100 Metern). Dann «hängt» es singend mehr oder weniger auf der Stelle. Da es beim Ein- und Ausatmen nicht absetzt, kann es fünf Minuten und länger singen. 2022 erhob BirdLife Schweiz den «unscheinbaren Meistersänger» zum Vogel des Jahres: In den letzten Jahrzehnten wird sie [Die Feldlerche] durch die fortschreitende Industrialisierung der Landwirtschaft zunehmend ausgerottet. Als Stellvertreter für den Niedergang vieler Arten des Kulturlandes, steht sie für eine dringend nötige Neuausrichtung der Agrarpolitik. Die Feldlerche gilt laut Vogelwarte als «Prioritätsart für Artenförderung». *
* Das Programm «Artenförderung Vögel Schweiz» wurde 2003 vom SVS/BirdLife Schweiz, der Schweizerischen Vogelwarte Sempach und dem Bundesamt für Umwelt BAFU ins Leben gerufen, um bestehende Artenförderungsprojekte zu koordinieren, neue Vorhaben zu lancieren und die verschiedenen Akteure fachlich zu unterstützen.

Irgendwo im Feld, manchmal als wäre er direkt vor uns, gibt ein Exempla des kleinsten Hühnervogels Europas, eine Wachtel, sein dreisilbiges «pick per-wick» zum Besten. Aber zu sehen bekommen wir den eiförmigen Vogel nicht. Er habe bisher noch nie eine Wachtel in freier Wildbahn zu Gesicht bekommen, sagt Patrick Marti. Erstaunlich.

Die haben doch (k)einen Vogel, die Menschen im Grossen Immermehrmeer! – Oder?
Die oben geforderte «dringend nötige Neuausrichtung der Agrarpolitik» klingt gut, gerinnt aber angesichts der zunehmend vielschichtig kritischen Weltlage im Grossen Immermehrmeer zum schier aussichtslosen Wunschdenken. Natürlich, der kleinparzellige, chemiefreie Bio-Bergackerbau der Genossenschafter:innen von Gran Alpin bietet sich an, der Feldlerche durch Weitsaat (Reihenabstand 30 cm), das Anlegen von mindestens fünf Prozent Biodiversitätsfläche und rücksichtsvollen Einsatz mechanischer Bodenbearbeitungs- und Mähmethoden den Boden für eine erfolgreiche Bruttätigkeit zu bereiten. Aber eben: Der beträchtliche Mehraufwand ist trotz Entschädigungszahlungen mit geringerem Ertrag verbunden. Wen wunderts also, dass nur wenige Gran Alpinler:innen den Weg nach Müstair gefunden haben. Und schon jetzt heisst es ja, das Bio-Berggetreide sei im Vergleich mit andern Bio-Produkten hochpreisig.

Eine von unzähligen Arten soll gerettet werden. Das ist gut so. Irgendwo muss man ja anfangen. Lieber spät als gar nicht. Mach wieder ganz, was du kaputt gemacht hast! Die Risse im globalen Hochglanzprospekt des aufklärerischen Fortschrittsdenkens klaffen immer weiter auseinander. Und sie lassen nicht, wie im vielzitierten Leonard Cohen-Song («There is a crack in everything. That’s how the light gets in»), das Licht herein, sondern das weitgehend ausgeblendete Schwarzloch-Dunkel der Medaillenkehrseite. Bezahlt wird später. Ein Vielfaches. Von andern. Am 2. August 2023 war der globale Erdüberlastungstag (Earth Overshoot Day). Der Swiss Overshoot Day hingegen fiel schon auf den 13. Mai. Leben auf Pump auf der Luxus-Kreuzfahrt auf dem Grossen Immermehrmeer. Vögeli, Vögeli, flüg us in es anders Huus! Eis, zwei, drü!

Das Weltwunder des im 19. Jahrhundert erblühenden Ingenieurswesens schaffte es, in kürzester Zeit einen ganzen Planeten rübis und stübis umzugraben, zu durchlöchern, zu umnetzen, unter Strom zu setzen, zu erleuchten, umzubauen, zu kanalisieren, zu stauen, auszutrocknen, zu rhoden und in einen einzigen grossen Park mit diversen Grossgrundbesitzer:innen zu verwandeln. Ein neuerschaffenes, künstliches Paradies und Kunstdünger-Schlaraffenland mit Brot aus Luft – es gebe Berechnungen, dass ohne die energieaufwendige Ammoniakherstellung nach dem Haber-Bosch-Verfahren nur etwa die Hälfte der Weltbevölkerung ernährt werden könnte; bisher ist es nicht gelungen, das Enzym künstlich herzustellen, das Knöllchenbakterien an den Wurzeln von Leguminosen wie Klee oder Bohnen zur Stickstoffbindung nutzen –, aus dessen Original wir einst nach dem Naschen vom Baum der Erkenntnis vertrieben worden sein sollen. Mit riesigen Staumauern, kilometerlangen Tunneln und so gigantischen wie magischen Kanälen und Immergrösserschiffen. Auto- und Eisenbahnen. Über- und unterirdische Starkstromleitungen. Kühl- und Eisschränke. Flugplätze und -zeuge. Und und und. Das Weltumspannende begann weit vor dem, was wir dann einst Globalisierung nennen.
Eindeichungen, das Trockenlegen von Sümpfen oder das Graben von Kanälen gehörten zu den härtesten Arbeitsstrapazen der frühen Neuzeit, zu denen die Obrigkeiten, die derlei zumeist betrieben, immer wieder Arbeiterheere von Sträflingen und Kriegsgefangenen (etwa aus den Türkenkriegen) abkommandierten. Das 20. Jahrhundert war gekennzeichnet durch grosse Dammbauten und durch eine Leidenschaft für Moordrainage, mittels deren weltweit ein Sechstel des vorhandenen wetlands trockengelegt wurde. Ebenfalls gingen im 20. Jahrhundert Grossprojekte der Ingenieurskunst an der Küste weiter: Landgewinnungen in der Bucht von Tokyo, die in den 1870er Jahren begannen, an der Yangzi-Mündung sowie die schon 1890 projektierte, aber erst nach 1920 angepackte Abriegelung der Zuiderzee, die am Ende das Territorium der Niederlande um mehr als ein Zehntel vergrösserte, zogen sich über viele Jahrzehnte hin.
An dieser ökologischen Frontier* war man auch im 19. Jahrhundert in vielen Teilen der Welt aktiv. In Frankreich etwa waren bereits um 1900 alle grösseren Moorgebiete drainiert und in Weideland verwandelt worden, eine Voraussetzung für den steigenden Fleischkonsum einer reicher werdenden Gesellschaft.
*Frontier = bewegliche Grenze der Ressourcenerschliessung
Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Frontiers. Natureroberung. C.H.Beck, München 2009
Das Anthropozän – Zeitalter des Menschen
Heutzutage zeigen sich global sonnenklar und immer schleuniger die verheerenden Folgen und Versäumnisse menschlichen Genies und Grössenwahns (Hybris), die vor den künstlich gezogenen Parkgrenzen nicht Halt machen. Und auf Tiere, Pflanzen und andere Lebensgründe nur selten, geschweige denn umfassend, Rücksicht nehmen. Vernetztes Denken ist der Menschen Stärke nicht. Unser noch immer wirksames Neandertalerhirn ist zurückgeblieben, während die eigenen Erfindungen uns davonrasen. Wie die Seele des Indianers (darf man das noch schreiben?) nicht mitkommt, wenn er ins Flugzeug steigt und so eigentlich ohne zu Reisen, also erfahrungslos, von einer fliegenden Kapsel verschluckt und am Zielort wieder ausgespuckt wird. Der Indianer (darf man das noch schreiben?) sind wir alle. Wir, das Ausredentier. Im Welterbe-Reservat des Grossen Immermehrmeers. Nun pützeln wir am kriselnden Resultat herum, an dem die Wildnis, das Chaos, das Urtümliche, das Unberechenbare unermüdlich nagt; korrigieren die Korrekturen und die Korrekturen der Korrekturen; seckeln blindlings vorwärts in eine ungewisse Zukunft; tanzen den Fortschrittstanz auf dem Vulkan sogenannter Künstlicher Intelligenz und anderer Heilsversprechen wie das Gagaleben in einer Glocke auf dem Mars munter weiter, als gäbs kein Morgen. Im Briefkasten finden wir dann irgendwann eine analoge Postkarte aus der Vergangenheit: Schöne Grüsse von der Kehrseite. Dein ewig blaues Nimmermehrmeer. – Morgen, morgen, nur nicht heute…
Das inzwischen so Offensichtliche scheint immer noch vielen – sorry, aber echt! – am Arsch vorbeizugehen. Der Kampf der Weltbild-Narrative ist in vollem Gange. An welches Wissen soll und kann man noch glauben? Am 12. Juli stimmt das EU-Parlament mit knapper Mehrheit, also mit Ach & Krach, für ein Renaturierungsgesetz – Korrektur der Korrekturen! –, da 80 Prozent – sorry, aber hallo!? Das sind vier Fünftel! – der Böden in der EU in schlechtem Zustand seien. Bis 2030 soll es für mindestens 20 Prozent der Land- und Meeresgebiete der EU – sorry, aber hallo!? Das ist nur ein Fünftel! – sogenannte Wiederherstellungsmassnahmen geben, also beispielsweise Wiederaufforstung von Wäldern, Begrünung von Städten sowie Renaturierung von trockengelegten Mooren. Pflästerchenpolitik, wo lebensrettende Sofortmassnahmen angebracht wären. Die Weltparkranger:innen und Welterbeverwalter:innen im Grossen Immmermehrmeer sind gefordert, wenn sie das menschgemachte Paradies einigermassen erhalten beziehungsweise wiederherstellen wollen. Nun haben Geologen einen See in Kanada zum Orientierungspunkt für das Anthropozän erklärt.
Oha, da will es immer noch jemand nicht wahrhaben! OK., dann also ein paar Anhaltspunkte zum Anthropozän, die zumindest zu denken geben sollten:
Die Zeit, 13.7.2023
- Menschen bewegen heute mehr Sediment als alle Flüsse und Winde zusammen. Und der jährlich produzierte Kunststoff wiegt genauso viel wie alle Erdenbürger zusammen.
- Rund ein Viertel dessen, was die Biosphäre hervorbringt, nutzen Menschen für sich, indem sie es ernten, fällen, verarbeiten und verheizen, schlachten und fischen.
- Die eisfreie Landoberfläche der Erde wird zu zwei Fünfteln landwirtschaftlich genutzt, Holzproduktion nicht mitgezählt.
- Weitere 15 Prozent davon sind mit Häusern, Strassen, Industrie- und Gewerbegebieten bedeckt, mit Holzplantagen, Tagebauen, Stauseen. Insgesamt ist mehr als die Hälfte der Landfläche umgeformt.
- Über die vergangenen 50 Jahre haben Zoologen im Wasser und an Land dokumentiert, wie Populationen im Mittel zwei Drittel schrumpfen. Wegen enormer Verluste ganzer Arten sprechen Biologen vom «sechsten Massensterben» der Erdgeschichte.
- Einige wenige Arten sind derweil grotesk zahlreich. Das Lebendgewicht aller Nutztiere ist mehr als 20-mal so gross wie das aller wilden Wirbeltiere. Das liegt an den riesigen Beständen von kaum zwei Dutzend Arten, vor allem Rindern.
Der unerschwingliche Preis des Nichtbepreisbaren
Was also bleibt da im Grossen Immermehrmeer für einen winzig kleinen, flatterhaften Vogel wie die Feldlerche übrig, der in der früheren Vielfalt kleiner Parzellen prächtig gedieh? Brehms Tierleben sah jedenfalls noch 1927 keine grösseren Gefahren für den Bestand: Alle kleinen vierfüssigen Räuber, von der Hauskatze oder dem Fuchse an bis zum Wiesel und der Spitz- und Wühlmaus herab, und ebenso Weihen, Raben, Trappen und Störche gefährden die Lerchenbrut, Baumfalk, Merlin und Sperber auch die alten Vögel. Die Feldlerche nimmt mit der gesteigerten Bodenwirtschaft an Menge zu, nicht aber ab.
Das einzige Lebewesen mit verbürgtem Eigentum, Tausch- und Täuschmittel Geld, Kreditkarten und einem lückenvollen Rechtssystem, das Horden von Jurist:innen ernährt, der Mensch. Ihm gehört schlicht und einfach alles im Grossen Immermehrmeer und Welterbepark Erde, sogar das, was noch nicht aufgeteilt wurde. Dieser Mensch legt praktischerweise die Kleinparzellen und ganze Dörfer zusammen, will alles grösser, schneller, effizienter und denkt bestenfalls erst wieder an den kleinen Vogel, wenn es ihn schon fast nicht mehr gibt. Dabei verhindert die Geschichtsblindheit der shifting baseline , dass die nächste Generation einen Vogelgesang vermisst, den sie nie gehört hat. (Hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag «Minnesang III: Schloss Hallwyl mit Schiffsrundfahrt auf dem Hallwilersee».) Den «fortschrittlichen» Zivilisations-Tunnelblick nennt man Fokus. Dazu addieren sich lange Jahre unter den Teppich gekehrter Kollateralschäden beispielsweise sogenannter «Pflanzenschutz(!)mittel»; ganz zu schweigen von der allgemeinen Bautätigkeit, der immer noch täglich Flächen von der Grösse mehrerer Fussballfelder zum Opfer fallen. (Hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag «Bio-Winterbraugerstenernte 2023 auf dem Plantahof Chur-Waldhof».)
Wenn der naive Lerchenvogel wüsste, dass seine Rettung uns Menschen viel vom Tausch- und Täuschmittel Geld und sonstige Mühsal kostet, gäbe er sich wohl mehr Mühe, der Unbill des sogenannt freien Marktes zu trotzen und sich gefälligst an die menschgemachten Spielregeln (und die Klimaerwärmung) anzupassen. Darin liegt eine weitere Schrägheit menschlicher Vermessenheit:
Der Markt bepreist so ziemlich alles, vergisst aber das weit umfangreichere Unbepreisbare in die Rechnung einzubeziehen. Das ist in etwa dasselbe, wie die Rechnung ohne den Wirt zu machen, also ziemlich paradox.
Verschwindet eine Vogelart, so verschwindet mit ihr eben nicht nur der physische Vogel, sondern auch der mythische, poetische, seelische, kulturelle, historische, gesellschaftliche, hoffnungsspendende. Die Feldlerche selbst müsste in allen Facetten zum Welterbe erklärt und mit juristischen Rechten ausgestattet werden. Und mit ihr alle andern Tierarten, sogar nervende und gar todbringende wie Stechmücken, die die Menschheitsgeschichte entscheidend beeinflussten und laut dem Historiker Timothy C. Winegard im Verlauf der Jahrtausende für den Tod von geschätzt fünfzig Milliarden Menschen verantwortlich waren – oder rund der Hälfte aller je geborenen Vertreter unserer Spezies. Natürlich durch Übertragung von Mikroorganismen wie Bakterien und Viren, von denen man noch nicht allzu lange weiss. So galt die durch die Anophelesmücke übertragene, durch Plasmodien genannte Einzeller-Parasiten verursachte Malaria lange als «Schlechte-Luft-Krankheit» (ital. mala aria = mal’aria). (Hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag «Paläobier in gesalzener Holobiontenkacke – der grosse Jahrtausende-Rückblick in die Zukunft».)
Ich staune, dass das grosse Insektensterben fast niemanden gross zu beunruhigen scheint. Und ich erinnere mich an die verklebten Frontscheiben nach grösseren Autofahrten mit den Eltern; wenn an den damals noch bedienten Tankstellen der Tankwart die Scheibe ungefragt putzte und die Sonne danach in derart in die Schmiere blendete, dass man nicht mehr hindurchsah. Natürlich machte das den cholerischen Vater jeweils fuchsteufelswild. Und schon kommt der britischer Starchirurg Ara Darzi mit der nächsten Hiobsbotschaft: Die stille Pandemie der Antibiotikaresistenz töte schon eine Million Menschen pro Jahr und führe zu nicht behandelbaren Superbakterien. Jo, heitere Fahne! Was kommt da noch alles?
Ich behaupte schon länger, dass die reiche, gut organisierte Schweiz mit ihren eher kleinen Höfen und Anbauflächen sich stärker als heute leisten könnte und müsste, ein praxisbezogenes Forschungs- und Experimentierlabor für eine zukunftsgerichtete, nachhaltige, ressourcenschonende und – wie sie im Grossen Kanton gerne sagen – technologieoffene Bio-Landwirtschaft zu sein. Auch damit das Thema Innovation nicht nur von überschätzten, fragwürdigen, libertär-preppenden, milliardenschweren, blenderischen, supersubventionierten E-Auto-Flutern, Satelliten-Weltumgarnern, Marseroberern und Ölscheichs besetzt wird, die in superklimatisierten Hightechkunstweltglocken sogar den Weltuntergang überleben wollen, den sie mit Superstar-Weltretterattitüden flott mitverursachen.** Leider ist unser Land – mit wenigen Ausnahmen – im Grossen und Ganzen nicht unbedingt ein Hotspot der mutigen Kreativität und fehlerlernenden Experimentierfreude. Ein Schweizer Forscher am berühmten MIT (Massachusetts Institute of Technology) sagte einst in einem Interview zu mir, dass die Schweiz einzig wegen der Pharma-Industrie immer wieder auf vorderen Plätzen von Innovations-Rankings auftauche; das seien aber meistens gar keine echten Innovationen. Wie auch immer.
** Die Multimilliardäre haben vor unterschiedlichen Katastrophen Angst: einem nuklearen Schlag, einer weiteren Pandemie, einem Klimadesaster. Was viele aus dem Silicon Valley ebenfalls beschäftige, seien die Auswirkungen der künstlichen Intelligenz, so der «New Yorker». Durch sie würden immer mehr Menschen ihre Arbeit verlieren, was wiederum zu einem Aufstand gegen die Technologie-Unternehmer führen könnte. Die Angst vor politischen Unruhen motiviert manche zu Fluchtplänen. Zudem ist den Tech-Preppern klar, wie stark alles miteinander vernetzt ist und wie anfällig das digitale System geworden ist. (NZZ, 14.3.22)

Seltene Pflänzchen als Hoffnungsbooster
Am Feldrand finden sich zwei seltene Pflänzchen. Unscheinbar und leicht zu übersehen. Als wären sie nicht da. Der haarig-borstige Krummhals (Anchusa arvensis) mit hellblau-weissen Blüten und der Acker-Spark (Spergula arvensis) mit weissen Blüten. Ersterer gilt als potenziell gefährdet, letzterer als verletzlich. Ihr hiesiges Vorkommen ist ein zusätzliches Argument zur Förderung von Feldlerche und Biodiversität in Val Müstair, sind sich alle einig. Im Gegensatz zur flugsingenden Feldlerche konnte ich sie bildlich festhalten.

Wie aller Anfang, ist auch dieser Wiederanfang schwer, weil nie dagewesen: Die Korrektur des Feldlerchenbestandes wird sich über Jahre hinziehen, bis zu einem möglichen sichtbaren Erfolg. Nicht alle bisher angewandten Massnahmen zeitigen das erwünschte Resultat. Die meisten weitgesäten Reihen präsentieren sich nicht nur fürs Laienauge zugewachsen. Aber letztlich entscheidet ja wohl das Feldlerchenpaar, ob es einzieht oder nicht. Und einem Paar scheint es ja im Feld, vor dem wir stehen, wohl zu sein.

Die Feldlerche kann nicht ausgesetzt werden wie Gänsegeier und Konsorten. So bleibt bezüglich der Feldlerchenförderung nur die Verbesserung der Brut- und Lebensbedingungen, damit der Schnellbrüter – nach 11-14 Tagen Brut dauert es rund 16 Tage bis die 3-5 flugfähigen Jungen das Nest verlassen – es schafft, wieder mehr als eine Brut pro Jahr aufzuziehen. Die ideale Umgebung zum Brüten wäre ein kleinräumiges Mosaik von verschiedenen biologisch angebauten Feldfrüchten, Berggetreide, Brachen/Diversitätsflächen, Wiesen oder Weiden. Und auch wenn die Sterne nicht allzu gut stehen, die Hoffnung stirbt zuletzt. Ganz nach dem Motto: Du hast keine Chance, also nutze sie! Die Welt braucht eine naturverträgliche, lebensfreundliche, zukunftsfähige Landwirtschaft, die nicht mehr die Ursache für das Artensterben ist.
In Graubünden erkenne ich einige vitale Bemühungen, die Freude machen. Klein, aber fein. Eine davon ist die 1987 in Tiefencastel gegründete Genossenschaft Gran Alpin, die seit 36 Jahren den ökologischen Bergackerbau in den Bergtälern Graubündens fördert und vermehrt Zulauf von jungen Landwirt:innen verzeichnet. Und die massgeblich von der Brauerei Locher unterstützt wird, indem sie deren Braugerstenproduktion trotz des höheren Preises kauft. Hier versucht man, ausgehend von den lokalen Gegebenheiten, sich zusammenzuschliessen und gemeinsam tragende Zukunftslösungen zu erarbeiten und umzusetzen. In Val Müstair entstand so auch die Agricultura Val Müstair mit der neuen Getreidesammelstelle, der Chascharia und der Bacharia. (Hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag «Der Osserirdische an der 36. Jahresversammlung der Genossenschaft Gran Alpin 2023».) Auffällig ist die starke Identifikation mit Lebensmittelpunkt und Arbeit, die viele hochbezahlte Work-Life-Balance-Bullshit-Jobs der Gegenwart nicht bieten können. Es wird sich weisen, ob die Bergackerbauern auch der Feldlerche das Feld bestellen werden. Denn auch hier tobt laut NZZ ein Kampf um mehr geteerte Strassen vs. Artenvielfalt – und es sind ausgerechnet die Bauern, die mehr Teer fordern. Die Feldlerche würde Kiesstrassen bevorzugen.
Also:
Flieg, Lercherich, flieg und sing dein schmetternd Lied em Tüüfel es Ohr ab! Brüt, Lerchenpaar, brüt, dass eure Kindlein fliegen und singen im blauen Raum wohlbehüt‘!

Treufreund. Ihr habt aber wahrscheinlich noch besondere Liebhabereien?
Papagei. Ich bin ein erklärter Freund von Nachtigallen, Lerchen und andern dergleichen Singvögeln. Ganze Stunden lang bei Tag und Nacht kann ich stehen und ihnen zuhören, und so entzückt sein, so selig sein, dass ich manchmal meine, die Federn müssten mir vom Leibe fliessen. Zum Unglück ist mein Herr auch sehr auf diese Thierchen gestellt, nur von einer andern Seite; wo er eins habhaft werden kann, schnaps! hat er’s bei’m Kopfe und rupft’s. Kaum ein paar hat er auf mein inständiges Bitten hier oben leben lassen, und just nicht die besten.
Treufreund. Ihr solltet ihm remonstriren.
Papagei. Das hilft nichts, wenn er hungrig ist.
Hoffegut. Ihr solltet ihm ander Futter unterschieben.
Papagei. Das geschieht auch, so lang’s möglich ist, und das ist eben mein Leidwesen. Wenn’s nur immer Mäuse gäbe! Denn Mäuse find’t er so delicieux wie Lerchen, und die schönste Lerche schnabelirt er wie eine Maus.
Hoffegut. Warum dient ihr ihm aber?
Papagei. Er ist nun einmal Herr.
Hoffegut. Ich liess‘ ihn hier oben in seiner Wüste, und suchte dort unten so ein schönes, allerliebstes, dichtes, feuchtliches Hölzchen, das voller Nachtigallen wäre, und wo die Lerchen über dem Felde dran zu hunderten in der Luft herum sängen: da wollte ich mir’s recht wohl werden lassen!
Papagei. Wenn’s nur schon so wäre!
J.W. Goethe: Die Vögel (Nach dem Aristophanes)
Nachtrag vom Mittelmeer:
Ich schwimme im Fruchtwasser des Lebens unermüdlich der Apokalypse entgegen

Diesen Quöllfrisch unterwegs-Beitrag verfasse ich im Freiluft-Home-Office in Supetar auf der kroatischen Mittelmeerinsel Brač, wo ich täglich bei Sonnenaufgang und am späten Nachmittag um die mit Pinien und Zedern bewachsene Friedhofsinsel schwimme. Vorbei am sattgrünen Leuchtturm, der die Markierung setzt, wo die wechselnde Strömung einsetzt, die einen manchmal kaum voran kommen lässt. Ein wenig Arnold Böcklin-Toteninsel, ein wenig Caspar David Friedrich-Romantik und sackheisses Postkartenwetter. Ich bin seit zwei Wochen der einzige, der dort schwimmt. Mit ein paar Fischen, von denen es auch nicht mehr viele gibt. Das war früher anders, als noch nicht alles so herausgepützelt und mit Hägen und Mauern versehen war.
Am späten Nachmittag des 27. Juli kämpfe ich im unruhigen, aber seichwarmen Adria-Meer gegen die erwähnte, besonders starke und wellenreiche Strömung an. Jeder Meter ein Kampf. Wie auf dem Laufband fast an Ort und Stelle. Das Meer. Urwasser des Lebens. Auch des unsrigen. Beim grünen Leuchtturm öffnet sich der Blick zum Festland, wo eine opal-opake Rauchwolke pilzig graubraun in den Himmel steigt und vom Wind quergezogen Richtung Insel getragen wird. Ein Waldbrand. Klein, im Vergleich zu den Feuerhöllen auf griechischen Inseln, wo tausende Menschen evakuiert werden mussten, aber doch eindrücklich. Die unheimliche Schönheit der Farbenspiele von Himmel, Rauch und Meer. Zwischen den glitzernden, unaufhörlich sich aufbauenden Wellenbergen, dem pfeifenden Wind, dem milchigblauen Himmel und der mehr und mehr vom Rauch verdunkelten Sonne, die auch das Meerwasser in eine glänzend-glitzernde Sauce zwischen geschmolzenem Gold, Quecksilber und Kupfer verwandelt, ohne Sicht aufs Festland, fühlt es sich an, als wär ich der letzte Mensch auf Erden, der in der Apokalypse von allen guten Geistern verlassen im salzigen Fruchtwasser, aus dem alles Leben kommt, gegen den Untergang anschwimmt. Gottvergessen im Grossen Nimmermeer. – Und siehe: Wie einst Bond Girl Ursula Andress in Dr. No entsteige ich wohlbehalten dem geschichtsträchtigen Mare Nostrum, das sich rasanter erwärmt als andere Meere.
84 Milliarden Meerjungfrauentränen
A propos Untergang und Feuersbrunst im big picture der weltweiten Havarien: Während vor der holländischen Küste die «Fremantle Highway» mit über fast viertausend Personenwagen, davon 500 E-Autos, an Bord vor sich hinbrennt, zu sinken droht und das mehr als 10’000 Tier- und Pflanzenarten beheimatende und von jährlich zehn bis zwölf Millionen durchziehenden Zugvögeln genutzte UNESCO-Weltnaturerbe Wattenmeer (die grösste zusammenhängende Schlick- und Sandwattfläche) gefährdet (ist grad noch mal gut gegangen), serviere ich zum Dessert das imposante, todernste Plastikperlenspiel-Schmankerl der «X-Press Pearl» (Containerschiff vom Typ Super Eco 2700), das den hiesigen Zeitungen nur eine leicht zu übersehende Notiz ohne beunruhigende Details wert war und – wie so vieles – nicht unbedingt darauf schliessen lässt, dass der homo sapiens-Zauberlehrling die Folgen seiner Handlungen im Grossen Immermehrmeer jemals in den Griff bekommen wird. Immerhin gehen auf den immer grösser werdenden Riesenfrachtern (inzwischen bis über 24’000 Container; zudem: grössere Schiffe brauchen grössere Häfen und Kanäle und verursachen bei Schiffbruch grössere Umweltkatastrophen) laut Spiegel (Der gefährliche Grössenwahn der Reeder, 5.8.23) weltweit pro Jahr im Durchschnitt 1600 Container mit allerhand Ladung über Bord, die zu folgenschweren Zusammenstössen führen können.
Am 20. Mai 2021 brach an Bord des Containerschiffs «X-Press Pearl», das sich 18 Kilometer vor Sri Lankas Hauptstadt Colombo befand, ein Feuer aus. Der 186 Meter lange, in der chinesischen Zhoushan-Werft gebaute Frachter gehörte der Singapurer Reederei X-Press Feeder, eine der 20 grössten
Frachtreedereien der Welt.Die «X-Press Pearl» war erst drei Monate zuvor vom Stapel gelaufen. Sie brannte 12 Tage lang, bis die Feuerwehrleute aus Indien und Sri Lanka die Flammen löschen konnten. Anschliessend versuchte man, das Schiff in den Hafen zu schleppen, um die restliche Ladung zu bergen. Doch am 17. Juni 2021 sank es – mit seinen 348 Tonnen Schweröl und 50 Tonnen Dieselkraftstoff.
Die drohende Ölpest rückte angesichts einer anderen Umweltkatastrophe in den Hintergrund: Die «X-Press Pearl» hatte nämlich 1486 Container geladen, von denen 81 gefährliche Güter enthielten, namentlich 1040 Tonnen
Natronlauge und 25 Tonnen Salpetersäure. Außerdem transportierte sie 187 Tonnen Blei und andere Metalle wie Kupfer und Aluminium sowie Harnstoff (ein Düngemittel), 210 Tonnen Methanol, 9700 Tonnen Epoxidharz und einen Container mit Lithiumbatterien.Und schliesslich waren da noch 28 Container mit insgesamt 1680 Tonnen industriellem Kunststoffgranulat – schätzungsweise 84 Milliarden Plastikkügelchen mit einem Durchmesser von 5 Millimetern, die auch als «Tränen der Meerjungfrauen» bezeichnet werden. Eine gigantische Flut
dieser Pellets – die bislang weltweit grösste – überschwemmte die Küsten Sri Lankas. Da Plastik nicht biologisch abbaubar ist, werden die Folgen noch über einen sehr, sehr langen Zeitraum spürbar sein.Die massive Verschmutzung mit giftigen Chemikalien und Plastikgranulat des Meeres und der Küsten steht für eine neue Art von Schiffsunfällen. Sie ziehen chemische Reaktionen nach sich mit langfristigen schädlichen Auswirkungen auf das gesamte Ökosystem. Ein Grund für die Zunahme dieser Havarien ist der steigende Warentransport auf dem Seeweg und die wachsende Grösse der Schiffe.
Ursache der Katastrophe war ein simples Leck in einem Behälter mit Salpetersäure gewesen. Das starke Oxidationsmittel wird zur Herstellung von Düngemitteln und
Sprengstoffen verwendet. Bei Kontakt mit Metallen reagiert es explosionsartig und entzündet Treibstoff, Papier oder Holz.Obwohl die Besatzung das Leck bereits am 11. Mai entdeckt hatte, war kein Hafen bereit, der «X-Press Pearl» zu helfen – «mangels Spezialausrüstung», wie es hiess. So weigerten sich etwa die Hafenbehörden von Hamad in Katar, danach auch
Mohamed Larbi Bouguerra: Die Havarie der «X-Press Pearl». Le monde diplomatique, 13. Juli 2023
die von Hazira im indischen Gujarat, den defekten Container an Land zu nehmen.

Am nächsten Morgen bei Vallotton-Sonnenaufgang und Hodler-Kulisse im swimmingpoolstillen Meer hat sich der Rauch zwar noch nicht ganz verzogen, aber alles scheint beim Alten, bestes Postkartenwetter. Oder aktueller: Instagramwetter. Nur die überall verstreuten Ascheflocken und der sich verziehende Restrauch erinnern an den anscheinend schnell gelöschten Waldbrand. So beende ich diesen Bericht im wohltuenden Schatten der Zedern unter der polyrhythmischen Dauerperkussion des unermüdlichen Zikaden-Orchesters. Wo vor einigen Jahren nicht nur der Pirol im Baum gelb leuchtete und flötete, sondern wo ich auch bis zu acht Wiedehopfe im damals noch unverbauten Brachland nebenan bei der Nahrungssuche beobachten konnte. Diese Vögel sind mit dem Brachland verschwunden. Die Zeiten ändern sich. Alles wird gut.
Aber Obacht, gell!

Tipp: Ausstellung Caspar David Friedrich und die Vorboten der Romantik, 26.8. – 19.11.2023, Museum Reinhart am Stadtgarten Winterthur.