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Über Wurzelstock & Stein zur Bergbraugerste

Quöllfrisch unterwegs in Graubünden

Der mit Alltagssensationen gepflasterte Prolog zum Blog «Quöllfrisch unterwegs» führt von Zürich über Appenzell nach Salouf im Bündnerischen Surses – und von da geht es dann weiter zu einigen von Europas höchstgelegenen Anbaugebieten von Braugerste.

Wir schreiben den 17. Juli 2017. Ruhetag bei der Tour de France. Sommerferien. Ich setze mich um 8 Uhr in den Zug Richtung Appenzell. Traumwetter mit wunderblauem Postkartenhimmel. Zürich schwitzt. Ich bin froh, der drückenden Glas-, Beton- und Teerhitze zu entkommen. Umsteigen in Gossau SG auf die Appenzeller Bahn. Zu Fuss durch die malerische Altstadt von Appenzell zum Brauquöll, um dort das Quöllfrisch unterwegs-Bike der Marke Flyer mit Anhänger zu übernehmen.

Der Quöllfrisch-Flyer ist startbereit…

Die Welt dreht und verändert sich. Auch davon erzählt dieser Blog: Die Gegenwart spielt sich im Spannungsfeld von Alt und Neu, von Bewahren und Verändern ab und äussert sich in mannigfaltiger Weise. Die daraus erwachsende Zukunft führt über innovative Ideen, produktive Kooperationen, gegenseitigen Respekt und nachhaltigen Umgang mit Ressourcen und traditionellem wie gegenwärtigem Wissen. Und wie wir sehen werden, braucht es auch Experimentierfreude und Risikobereitschaft. Mut zum Unerwarteten, zur Kreativität. Und es braucht den verantwortungsvollen Umgang mit der Natur zur Produktion unserer Nahrungsmittel. Beispielsweise, um im rauen Bergklima wieder Bio-Getreideanbau zu betreiben. Wie es früher Gang und Gäbe war. Davon berichten auch die vielen alten Sagen. Und die berühmte Bündner Gerstensuppe, die ich schon als Kind geliebt habe.

Uns interessiert natürlich insbesondere die Braugerste. Der Unterschied zwischen Braugerste und Rollgerste liegt übrigens im tieferen Eiweissgehalt ersterer. Das sei für das Bierbrauen wichtig. Eines der höchsten Braugerstenfelder liegt auf rund 1600 m.ü.M. in Tschlin im Val Müstair. Damit der Anbau gelingt, muss das alte Wissen vom Getreideanbau in den Bergen zeitgemäss belebt, gelernt, optimiert und genutzt werden. Dabei spielt das Wetter eine ebenso entscheidende wie unberechenbare Rolle. Die bergklimafeste Gerste soll im Wettlauf mit dem Unkraut ganz ohne Gift die Oberhand behalten, was nach heissem Frühling und Frosteinbruch im laufenden Jahr eine besondere Herausforderung darstellte.

Und eben: Nicht immer läuft das Leben wunschgemäss und reibungslos. Weder das virtuelle noch das analoge. So wird sich der Velo-Anhänger – und das ist längst nicht alles – auf der Reise mehrmals als echter Klotz am Bein bzw. Rad erweisen. Ich plädiere für Satteltaschen, um in Zukunft weniger „Gschtellasch“ und damit verbundenen Ärger zu haben.

Der Kiesweg sah einladend aus. Dann wurde es steiler und steiler…
…und wieder flacher, dann das.
Der Drahtesel am Berg: Steinrutsch im Weg. Zurück ist zu weit und zu steil, also heissts, das ganze Gestellasch drüber hieven. Wohl oder übel. Natürlich wird der Anhänger seinem Namen vollauf gerecht: er hängt an, wo immer er kann.
Kaum wieder im Sattel – triefend vor Schweiss – zwei Bäume quer über dem Weg (sehen klein aus, sind aber oho!). Auch das schaffst du, alter Held! Der Weg ansonsten eigentlich immer noch ganz feudal.

Der Weg ist das Ziel – nicht wahr?

Nun radle ich von Appenzell Richtung Altstätten SG über Land – auf einer praktisch unbefahrenen Strasse inmitten saftig grüner Wiesen. Mir fällt dabei ein, dass man uns in der Primarschule in Heiden – für Anfänger in Sachen Appenzell: Heiden liegt in Ausserrhoden – immer wieder gesagt hat, das Appenzellerland sei der Fünfliber im Chuehflade. Eine Metapher, die wiederum nicht so illustriert wurde, sondern mit Leitern um den ganzen Kanton herum. Ersteres bedeutete, dass beide Appenzeller Halbkantone vollständig von St. Gallen umgeben sind; der Kontrast zwischen Geld und Kuhfladen sollte dabei die überragende Schönheit unserer Hämet verdeutlichen. Die Leitern wurden an die Kantonsgrenzen gestellt, weil alle Appenzeller Orte höher liegen als die St. Gallischen. Die Kuhfladengeschichte kann man als Lehrer wahrscheinlich heute nicht mehr so bringen, ohne einen sozialmedialen Shitstorm auszulösen, oder? Aber damals gab es ja in der ganzen Schweiz auch noch Lehrer, die ihre Schüler schlagen und mit Kopfnüssen eindecken durften. Und die Eltern sagten dann nur, er wird ja wohl einen Grund gehabt haben. In der dritten Klasse erlebte ich als Neunjähriger schockiert, wie der ältere Italienerjunge Giovanni durch den Schlag des Primarlehrers von der Tür bis ans Fenster rüberflog. Das waren noch Zeiten. Und es ist noch gar nicht so lange her. 40 Jahre? Dies nur, um auch mal wieder darauf hinzuweisen, dass früher nicht alles besser war, als die Menschheit noch kein Handy vor dem Kopf hatte.

Den Kühen ist das alles sowas von Gras.

Zum Fünfliber habe ich noch eine aus dem Leben gegriffene Geschichte aufgeschnappt, die quasi im Shopville durch die Migros flatterte: Als ich ein Mineralwasser für die Zugfahrt kaufte, fragt ein Ladenmitarbeiter seinen Kollegen: „Hey Bro, was bedeutet das eigentlich, wenn man sagt ‚de Füfer und s Weggli‘? Wenn du ein Weggli kaufst, erhältst du einen Fünfliber dazu oder was?“ Der junge Mann kann sich nicht mehr vorstellen, dass ein Weggli mal fünf Rappen gekostet hat. Das war natürlich auch vor meiner Zeit. Aber dass ein Weggli weit unter einem Franken kostete, habe ich noch erlebt. Zudem verstand ich das Sprichwort schon immer, war man doch von klein auf auf die Grosszügigkeit der Erwachsenen angewiesen, wenn man zu einem Weggli mit Schoggiprügeli kommen wollte. Wer hätte da nicht auch den Füfer gerne behalten, um unabhängig von den Grossen zu sein und wie die Grossen die Weggli seiner Begierde kaufen zu können, wann immer man Lust hatte.

Ab und zu eine Bschorle-Pause – und weiter gehts! Die Kamera fokussierte auf den Weiher dahinter, was dem Genuss keinen Abbruch tat.

Friedlich und geräuschlos flyere ich dahin. In gespannter Erwartung der Dinge, die da kommen werden. Es fühlt sich ein wenig an wie auf einem Hometrainer im Fitness-Club, so ein E-Bike. Mit dem wesentlichen Vorteil, an der frischen Luft und mit realer Vorwärtsbewegung zu strampeln. Ich geniesse die Freiheit des Seins – als hätte mich eine Zeitmaschine in die Romantik rückversetzt. Ein zünftiger Handwerksgeselle mit E-Drahtesel auf der Walz. Und bei Durst öffne ich ein erfrischend spritziges Bschorle aus dem Anhänger. Ahh, das tut gut! Aber oha! So einfach und schmerzlos komme ich dann trotz E-Bequemlichkeit doch nicht davon.

Oha, nächstes Hindernis: Drei Tritte auf dieser Seite des Stegs, drei auf der andern. Vom danach folgenden, sacksteilen Wurzelweg – mit mehrfachen Schraubenkapriolen des Anhängers – gibt es keine Bilder, nur in den Bäumen verschallende Flüche. Der schiffwütige Fitzcarraldo und Don Quichote, der gegen Windmühlen und andere Ungetüme kämpfende Ritter von der traurigen Gestalt, lassen grüssen. Allerdings entschädigt mich der Anblick des davonfliegenden Schwarzspechts.
Die Zivilisation beginnt mit rostiger Kunst: Altstätten SG.

Barrierefreie Verbindung in den Label-Dschungel

Im Zug nach Chur, umsteigen in die Rhätische Bahn, weiter nach Tiefencastel. Der Veloselbstverlad in der SBB klappt bestens, man kann ebenaus in den gekennzeichneten Wagen fahren. Ich setze mich neben den schon etwas geschundenen Anhänger auf einen Klappsitz. Es ist der Platz für Handicapierte und es handelt sich bei diesem Zug um eine sogenannt „Barrierefreie Verbindung“. Klingt verheissungsvoll, nach dem rumpligen und hindernisreichen Anfang dieses Prologs. In Landquart surrt dann tatsächlich ein elektrischer Rollstuhl in meine Richtung. So verschiebe ich meine Wenigkeit samt Gschleipf auf einen freien Platz vis-à-vis. Der freundliche Rollstuhlfahrer schaut in Richtung Fenster, dreht mir also danach den Rücken zu. Sein Gespräch mit einem ältern Wanderlustigen, der immer wieder rätoromanische Namen von einer Karte abliest und hörbar vor sich hin murmelt, lässt mich erfahren, dass dieser die nigelnagelneue, wasserdichte und reissfeste Wanderkarte aus Gewohnheit noch immer mit einem Plastikmäppchen schütze. Und dass die weiteste Reise des Rollstuhlmanns nach Como geführt habe. Allerdings in Begleitung. Ja, wahrscheinlich ist seine Welt immer noch gespickt mit unzähligen unüberwindbaren Barrieren, deren wir uns gar nicht bewusst sind.

Das iPhone hat jetzt schon wieder fast keine Batterie mehr. Isch scho en Seich, mit dene impotente Akkus. Das Bike gibt noch 75% Ladung an. Ein ziemlicher Ziegel von Ersatzbatterie beschwert den Anhänger. Erstaunlicherweise haben die restlichen Bschorle das Downhill-Beben ebenso unbeschadet überlebt, wie die sechs Fläschchen Gran Alpin-Bier, die ich im Hotel Ela in Salouf, wo ich logieren werde, zum Degustieren abgeben soll. Dass sie dort dieses Bier längst führen, liess mich dann an den Spruch „Wasser in den Rhein tragen“ denken. In unserem Fall wärs wohl Alpsteinquellwasser in die Julia, was doch viel schöner klingt und trotzdem irgendwie dasselbe bedeutet. Denn die Julia a.k.a. Gelgia fliesst in die Albula und diese in – genau: den Rhein.

In Chur hilft der Zugbegleiter, Bike und Anhänger in den entsprechend gekennzeichneten Wagen der Rhätischen Bahn zu hieven. Der Rollstuhlfahrer wäre hier laut SBB-Website auf Mobillift und einen Mobilitätshelfer angewiesen. Dazu müsste er sich beim SBB Call Center Handicap anmelden. Ich setze mich in den benachbarten Personenwagen. Die Ansage bewirbt die seit 2008 zum UNESCO-Welterbe erklärte „höchste Alpentransversale in ganz Europa“ mit 145 Kilometern Länge, 55 Tunneln und über 196 Brücken und Viadukten. Ich werde – wenigstens an diesem Tag – davon nicht viel sehen und in Tiefencastel aussteigen.

Geranien sind sehr beliebt im Bündnerland. Sie setzen friedvolle Farbakzente. Und es gibt sie wie Sand am Meer.
Die Schalterhalle von Tiefencastel ist noch eine richtige – eine ganz besondere. Mit Steinbock.

Was aber dem Unterländer immer wieder höchst verwirrend ins Auge sticht: Die Label- und Benennungs-Vielfalt in Graubünden blüht fast ebenso wacker drauflos wie diejenige der buntblumigen Ökowiesen zur Erhaltung der Biodiversität. Wahrscheinlich ist das auch für die Deutungshoheit der Einheimischen eine schier unmögliche Herausforderung. Als es da heisst: Graubünden Savognin Bivio Albula; Graubünden Scuol Samnaun Val Müstair; Graubünden Engadin St. Moritz; Graubünden Bregaglia Engadin; Graubünden Bergün Filisur; Graubünden Dies und Das und Graubünden Das Das und Dies; Gemeinde Surses mit den neun fusionierten Gemeinden Bivio, Cunter, Marmorera, Mulegns, Salouf, Savognin, Riom-Parsonz, Sur, Tinizong-Rona, darunter Savognin, sprich: Graubünden Savognin Bivio Albula; UNESCO-Welterbe Tektonikarena Sardona; UNESCO-Welterbe Bernina-Albula-Linie; Svizzers Parc Natiral Regiunal; Parc Ela, Parc natiral. Parco naturale. Naturpark.; Nationalpark; und purlimunter so weiter. Zwecks Vereinfachung und Klarheit soll nun laut SRF DRS das UNESCO-Biosphärenreservat Engiadina Val Müstair neu heissen: „parc da natüra Val Müstair“, deutsch: „Naturpark Val Müstair“. – Alles klar?

Demnächst: Quöllfrisch unterwegs – Hölle, Paradies & sackstarke Frauen.