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Seht, wie sie tanzt, die schöne Alpetta!

Quöllfrisch unterwegs in Bergün/Bravougn

Nun ist es also soweit: Die neue Bio-Braugerste Nr. 1710 wird heute, 18. August 2020, in Bergün/Bravougn offiziell vorgestellt. Und ab sofort heisst sie Alpetta, die Bündner Schönheit.

Es sei leider die einzige Gran Alpin-Veranstaltung mit Feldbesichtigung, vermerkt Maria Egenolf bei der Weiterleitung der Einladung zur Besichtigung des neuen Zuchtstamms Nr. 1710 bei Urs Heinrich in Bergün/Bravougn. Wir kennen die Zahl bzw. die neue Pflanze ja auch aus Zernez. Der dortige Streifen sei inzwischen bedeckt. Die Spatzen hätten sich zuhauf dran gütlich getan.

SZ 1710 in Zernez am 22. Juli 2020.

Wir schreiben den 18. August 2020. Eindrücklich, wie der Albulabahn von Filisur am und durch den Berg 300 Höhenmeter überwindet; bis St. Moritz seien es gar 1000 Höhenmeter. Und 196 Brücken sowie 55 Tunnels. Ein bahntechnisches Meisterwerk.

Fadengrad durch die Wand: Das vorangehende Landwasserviadukt wird renoviert, das nächste führt butterweich in den Fels.

Diverse Mal erinnert einen die Lautsprecherstimme daran, dass wir uns im Unesco Welterbe RhB befinden. Und aus der Höhe erkenne ich mit Schrecken, dass Cordo Simeon auf der Ranch Farsox seine Braugerste schon geerntet hat. Da wollte ich dieses Jahr eigentlich mit von der Partie sein. Erstaunlich, hier im Albulatal scheint die Gerste früher reif zu sein als im Val Lumnezia oder in Zernez (s. Tour de Braugerste 2020 I, TdB II, TdB III, TdB IV). Und schon erreicht mich Flurin Zinslis Mitteilung, dass in der letzten Augustwoche auch im Val Lumnezia gedroschen werden soll.

ranch-farsox.ch

Krokodil, Zwerge & Riesenschlitten

Bergün/Bravougn. Ich esse im Büfèt des Bahnmuseums Albula (es gibt da auch Appenzeller Bier) im alten Zeughaus beim Bahnhof einen Happen, unter einer Sponsoren-Wand mit nach altem Vorbild redesignten Bähnlerhüten, wovon einer meinen Nachnamen aufgestickt hat: Preisig AG.

So ein Preisig-Hut würde mir gut zu Kopfe stehn.

Nach dem Essen umrunde ich das Gebäude, inspiziere die etwas kurzschnauzige Krokodillok und wundere mich über einen einsamen Fussgängerstreifen für bis zu 13 Tonnen schwere Zwerge und die an mehreren Orten herumstehenden Riesenschlitten. Von Verkehr aber weit und breit keine Spur. Da würde sich doch auch ein Ampelsystem ganz gut machen.

Wahrscheinlich ists wie mit dem Gebirgswetter: Bei aus heiterem Himmel unvermittelt hohem Verkehrsaufkommen haben die unsichtbaren Schwergewichtszwerge Vortritt und kommen sicher über die Kreuzung. Aber, wo sie doch gar nicht mehr da sind…

Die Sage vom gespaltenen Granitfels erzählte nur von Zwergen und nichts von Riesen. Kurz gefasst heisst es, der damals noch ungespaltene Stein hätte die Höhle bedeckt, in der die Zwerge hausten. Die von niemanden je zu Gesicht bekommenen Zwerge hätten vielen die strenge Arbeit abgenommen. Wie Heinzelmännchen, nachts und ohne das sie je jemand zu Gesichte bekommen hätte. Als aber zwei Burschen ihre verlorenen Schafe suchten, sahen sie einen der Zwerge, worauf diese den Stein spalteten und auszogen. Vorbei wars mit der Zwergenberghilfe.

Zu gross für die Albula-Zwerge: Riesenschlitten vor dem Bahnmuseum Albula.

Das weltweit grösste Feld ZS1710

Punktlandung. Mein Rundgang endet genau am Treffpunkt, wo sich praktisch alle Teilnehmer*innen schon eingefunden haben. Allegra! Padruot Fried kommt sofort auf mich zu und weiss auch schon meinen Namen. Wir verteilen uns auf die verschiedenen Fahrzeuge und schon stehen wir vor dem kleinen Versuchsfeld mit vier Braugerstensorten: Die aktuell verbreitet eingesetzte, kurzstenglige Quench, ZS 1710, Tschierv und Ardez. Letztere seien schon überreif und wurden von einem Unwetter umgelegt. Sie sind höher als die beiden andern. ZS 1710 überragt die kurze Quench um mindestens eine Handbreite.

ZS 1710 ist eine Art Arbeitsname. Philipp Streckeisen sagt, die Zahl setze sich irgendwie aus dem Jahr 2017 und der 10. Kreuzung zusammen. So genau weiss er das auch schon nicht mehr. Aber das soll sich ja heute sowieso ändern: Die Bündnerin wird getauft.

Noch vor dem kurzen Regensprutz: Das Versuchsfeld mit den Bio-Braugerstensorten (von vorn): 1 x Quench, 2 x ZS1710, 1 x Tschierv, 1 x Ardez. Der grüne Streifen rechts vom Getreide: Bergkartoffeln von Marcel Heinrich.

Padruot Fried fasst kurz die mittlerweile 33jährige Erfolgsgeschichte (auch Dank der langjährigen Unterstützung durch die Brauerei Locher) von Gran Alpin zusammen und das nun schon mehrjährige Projekt des vielversprechenden Zuchtstamms 1710. Die 1987 gegründete Genossenschaft Gran Alpin brachte den Berggetreideanbau nach Graubünden zurück. Und belebt damit eine alte Tradition und viel verlorenes Wissen neu.

Erstaunlich, wie schnell die Naturburschen sich vor dem Regen schützen: Padruot Fried (Mitte) verkündet feierlich, dass ZS 1710 nun Alpetta heisst.

Die früher verbreitete Sorte Ria musste wegen Schwarzrostanfälligkeit ersetzt werden. In Zusammenarbeit mit dem Biologen und Experten für Berggetreideanbau Peer Schilperoord (berggetreide.ch/) wurden diverse Sorten in Feldversuchen getestet. Die Sorte Quench erwies sich als die beste Alternative mit einem um ca. 39% höheren Körnerertrag, einem signifikant tieferen Eiweissgehalt und deutlich geringerer Anfälligkeit auf Schwarzrost, Netz- und Blattflecken. Der Nachteil: Sie reift spät, was im Berggebiet entscheidend sein kann.

Wenn am 9. September jeweils die Jagd beginnt, fällt meist auch der erste Schnee. Kann die Braugerste bis dann nicht geerntet werden, nimmt sie argen Schaden, da sie nicht mehr trocknen kann. Also versucht man nun seit rund acht Jahren in Zusammenarbeit mit dem Agronomen Philipp Streckeisen, eine früher reifende Sorte für Graubünden zu züchten. Um dem Schnee zuvorzukommen. Ausserdem muss sie standfest sein und gesund, sprich: widerstandsfähig. Auch soll sie nur über 1000 m.ü.M. angebaut werden. Möglichst perfekt angepasst an die rauhen Bedingungen des höchstgelegenen Braugerstenanbaugebiets Mitteleuropas.

Zwei Gran Alpin-Urgesteine haben das Heu nicht immer auf der gleichen Ebene: Der frühere Geschäftsführer von Gran Alpin Hans Casper Trepp (links) will, dass der Züchter Gran Alpin heisst. Der Teamleiter Padruot Fried würde gerne den Kanton Graubünden dazu ernennen. Rechts Chloé Berli von Gran Alpin.

Ich stosse auf einen Artikel in der NZZ zum 20-Jahr-Jubiläum von Gran Alpin. Damals war der ebenfalls anwesende Tierarzt Hans Casper Trepp Geschäftsführer der Genossenschaft. Dort heisst es: Als «das Schlaueste, was wir gemacht haben», bezeichnet Trepp aber den vor einigen Jahren lancierten Anbau von Braugerste. Aus dem Ertrag von jährlich rund 30 Tonnen wird seit 2004 in Tschlin würziges Engadiner Bier gebraut. Bei guter Ernte geht der Rest an die Brauerei Locher in Appenzell, die zugesichert hat, bis zu 50 Tonnen abzunehmen. So viel wird allerdings noch längstens nicht produziert, obwohl Gran Alpin das Saatgut für die heikle Braugerste inzwischen selber anbaut. Viele Bauern müssten erst noch überzeugt werden, Braugerste anzubauen, sagt Hans Casper Trepp. Wie wir wissen, befindet sich die Bieraria Tschlin inzwischen in Martina, dem Herkunftsort von Padruot Fried. Und immer mehr Landwirte machen mit beim Anbau von Braugerste.

Weltpremiere: Aus ZS1710 wird ALPETTA

Die Taufzeremonie: Padruot Fried verkündet feierlich, dass die neue Bündner Bergbraugerste ab sofort Alpetta heisst.

Das vorläufig vielversprechende Resultat ist eine Kreuzung von Ardez und Quench: Die von Padruot nach einem kurzen Regenguss auf den Namen Alpetta getaufte neue Sorte. Sie reife rund 10 Tage früher als die Quench. Und – das sei dem ebenfalls anwesenden Ueli Heinrich immer ein grosses Anliegen gewesen – sie gebe mehr Stroh. Es sei einfacher, eine kurzstielige Sorte zu züchten, als eine lange, die gut steht. Nun sei er hocherfreut, zu sehen, dass die Alpetta nach zwei heftigen Stürmen noch standfest war und jetzt, nach einem weiteren Unwetter, immer noch. Und einmal sagt er voller Freude: «Lueged, wie sie tanzt!»

Der Name Alpetta bedeute «kleinere oder mittlere Alp». Alpuna ist die grosse und Alpina die kleine Alp. Als es noch keinen Vereina gab, Flüela immer zu war, habe man vom Arlberg her kommend den 2979 m hohen Alpetta gesehen und wusste: Jetz ischme dihei. Im Engadin.

Vorne Quench, hinten Alpetta.

Das Feld hier in Bergün/Bravougn ist zur Zeit das grösste Alpettafeld der Welt. Bisher wurde mit der neuen Sorte natürlich noch kein Bier gebraut. Wird ebenfalls ein nächster Testschritt sein. Aber mit 11 – 12,5% liegt der Eiweissgehalt nur gering über dem Wert der Quench mit etwa 11%. Sollte eigentlich funktionieren, ist die allgemeine Meinung der anwesenden Brauexperten.

Alpetta – es gibt noch viel zu tun

Wer eine neue Sorte hat, meldet sie für die DHS-Prüfung an. Dazu muss sie sich klar von andern Sorten unterscheiden, homogen und auf drei Jahre hinaus stabil sein. «Das koscht öppe zweiehalb Tuusig Stei.» Man wird die neue Sorte erst einmal als Nischensorte anmelden. Das Ziel ist noch lange nicht erreicht. So meint Philipp Streckeisen, dass man wahrscheinlich erst nach weiteren acht Jahren einigermassen wisse, ob die Züchtung Alpetta wirklich funktioniere. Padruot fährt fort, dass es nun darum gehe, die Sorte zu schützen. Das gebe sehr viel zu tun.

Dazu braucht man einen Heimbetrieb, der sich um die Sorte kümmert. Er darf keine Vermischungen ermöglichen. Das könnte beispielsweise auch durch einen verunreinigten Mähdrescher passieren. Padruot betont noch einmal, dass das Reinhalten sehr aufwendig sei. Man hätte gerne, dass der kantonale Plantahof in Landquart diese Verantwortung übernehme. Martin Roth vom Plantahof bestätigt, dass man die Aufgabe übernehmen wolle.

Nun wirft Padruot einen demokratischen Zankapfel in die Runde: Man müsse angeben, wer der Züchter sei. Er schlage vor, dass das der Kanton Graubünden sei, da er über die nötigen Ressourcen verfüge, Alpetta zum Ziel, also zur Anbaureife zu führen. Aber es gebe auch die Möglichkeit, Gran Alpin als Züchter zu nennen. Für den früheren Gran Alpin Geschäftsführer Hans Casper Trepp ist klar: Der Züchter ist Gran Alpin. Wie gesagt: Die Ernte der neuen Züchtung ist noch lange nicht im Trockenen. Dazu braucht es die saubere Vermehrung des reinen Basiskorns und die Vermehrung des Saatguts für den Anbau. Wir bleiben dran.

Schwarzrost – eine Pandemie

Von links nach rechts: Chloé Beerli, Peer Schilperoord, Padruot Fried, Urs Heinrich.

Ein bekanntes, darauf spezialisiertes Institut aus den USA habe Alpetta auf Schwarzrostresistenz geprüft. Das Resultat sei ermutigend, da gewisse Proben sogar Resistenzen aufweisen gegen den im Moment weltweit grassierenden, äusserst aggressiven Schwarzrost-Typ UG99 aus Uganda. Philipp Streckeisen arbeite nun schon weiter mit diesen Proben.

Im Netz finde ich einen Text von Peer Schilperoord aus dem Jahr 2014: Der Schwarzrost (Puccinia graminis) ist eine Pilzkrankheit, die im Frühjahr zunächst ausgehend von abgestorbenen Gräsern und Strohresten die Berberitze befällt. Von den Berberitzen ausgehend kann der
Pilz wiederum Getreide und andere Gräser befallen, die dann zu Infektionsherden von anderen Gräsern werden. Als erste Getreideart wird Roggen befallen, 1-2 Wochen Später die Gerste. Weizen wird äusserst selten befallen. Die einheimischen Landsorten sind fast alle resistent, erhebliche Probleme kann es mit neuen Zuchtsorten geben. In den höheren Lagen kann der Befall zu erheblichen Verlusten führen.
Es gilt natürlich noch andere Krankheiten zu verhindern, aber Schwarzrost scheint das grösste Problem zu sein.

Graubünden wird immer mehr Bio

Wir sehen: Bis eine neue Nutzpflanzenart funktioniert dauert es Jahre. Unglaublich mit welcher Leidenschaft, mit welchem Herzblut die Beteiligten daran arbeiten. Ich sage ja: Graubünden – der grösste Kanton der Welt, wie die Werbesteinböcke ihn nennen – entwickelt sich mehr und mehr zur biolandwirtschaftlichen Schatzkammer der Schweiz. Hier wird wichtige Pionierarbeit geleistet gegen die unvermeidliche Verödung durch pestizidhaltige Monokultur-Landwirtschaft. Und das wirkt sich ja bekanntlich aufs gesamte Leben aus. Ganzheitlich.

Von links nach rechts: Chloé Beerli, Philipp Streckeisen, die drei Heinrichs: Ueli, Urs, Marcel, Martin Roth. Vorn: Alpetta.

Drei Heinrichs sind heute anwesend, alle innovative Biobauern: Vater Ueli Heinrich (züchtet heute in Filisur Edelhühner) – ebenfalls ein Gran Alpin-Urgestein – und seine beiden Söhne Urs Heinrich (hof-plaschair.ch/) und Marcel Heinrich (lasorts.ch/). Letzterer hat hier im Feld noch eine Testsorte Kartoffeln gepflanzt (d und baut in Filisur seit einigen Jahren die wunderbaren Bergkartoffeln (und auch andere Pflanzen z.B. Braugerste, die er noch diese Woche dreschen will!) an, deren günstigste Sorte ich oft im Bachser Märt kaufe. Und dann und wann leiste ich mir eine der teureren Sorten; wer sie direkt auf dem Hof kauft, kommt preislich klar besser weg. Ja, Leute, die Zukunft ist nicht geizgeil! Weniger ist mehr – und schmeckt so unendlich viel besser. Das ist wahre Lebenskunst. Zieht es durch, da oben in Graubünden! Viva, es lebe die landwirtschaftliche Biodiversität!

Und nun lassen wir Alpetta, die schöne Bündnerin, noch ein bisschen tanzen:

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