Quöllfrisch unterwegs in Müstair
Auf dieser Feldbegehung mit dem erfahrenen Bio-Getreidebauer Johannes Fallet war keine Braugerste dabei. Aber beim humorvollen Leiter des Klosterbetriebs Müstair gibts einfach immer Interessantes über Berggetreideanbau (und anderes) zu erfahren.
Müstair, 8. August 2019. Für den betriebseigenen Alpkäse hats nicht in die Pizzoccheri von Ehefrau Petra gereicht: Johannes Fallet brachte die 42 Laiber dieses Jahres zu spät von der Alp herunter. Fein wars trotzdem, das Mittagessen. Solange es solche Pizzoccheri gibt, geht die Welt nicht unter. Als mein Blick am Tisch auf eine Holzuhr mit geschnitztem Kuhkopf fällt, ein Geburtstagsgeschenk, sage ich: «Also nach 75 siehst du nicht aus. Der Johannes Baptist, der dieses Geschenk bekommen hat, war wohl dein Vater.»
Dazu meint Petra lachend, dann wär er ja schon 95, da der Geburtstag ja 1999 war. Er – ihr Johannes – falle aber mit seiner Grösse schon aus der Reihe, denn der Vater sei klein und schmächtig gewesen. Und weil ja mal die Römer hier waren, ergänzt Johannes: Im Burg-Museum im Dorf, aus dem seine Mutter stammt, gebe es ganz viele Römerrüstungen für kleine Männer und eine einzelne, ganz grosse. Da muss er wohl von diesem grossen Römer abstammen, der Cäsar Johannes. Nun, wie auch immer, mir fällt ein – ebenfalls zu spät, nämlich auf der Rückfahrt in der Rhätischen Bahn –, dass ich eigentlich gern noch ein prächtiges Stück Käse gekauft hätte. So en Chäs! Tja, dann halt nächstes Mal.

Chloé Berli von Gran Alpin liest mich am Bahnhof Zernez auf. Da wir auf der Ofenpassstrasse so rund eine – nicht nur gefühlte – halbe Stunde an einem der häufigen Baustellen-Rotlichter aufgehalten werden, sind im Klosterbetrieb schon alle auf der Suche nach uns. Das Mittagessen steht bereit. Nach der Begehung fahre ich im Auto des freischaffenden Geologen Stephan Stutz von Müstair nach Zernez zurück. Er führt seit kurzem für Gran Alpin das Roggenprojekt von Peer Schilperoord weiter, der alte Getreidesorten anbaute, züchtete und auf ihre Eignung fürs Berggebiet untersuchte.
Auf der Gran Alpin-Website heisst es: Mit ihm (Peer Schilperoord) haben Vermehrung und Anbau der alten Roggensorte Cadi begonnen. Cadi hatte den Winter 09/10 gut überstanden, nicht aber die nasse Witterung in der Haupterntezeit. Der Nachteil der alten, züchterisch vernachlässigten Sorte liegt darin, dass sie mit unseren heutigen, in der Regel fruchtbareren Böden überfordert ist. Dazu kommt die Halmlänge von 1.80 bis 2.20 m, was schnell zur Lagerung des Getreides führen kann. Gut zu sehen auf den verschiedenen Roggenfeldern an diesem Nachmittag in Müstair und dem Nachbardorf Santa Maria: einige Gewitter haben den Roggen teilweise umgelegt. Das sei im Normalfall nicht ein grosses Problem, kann aber – nebst schmälerem Ertrag – dazu führen, dass das Getreide schon austreibt oder grau wird. Praktisch jeder Landwirt sagt zu Stephan Stutz, dass man sich über eine kürzer wachsende Züchtung extrem freuen würden. Idealhöhe wäre um 1.70 herum.

Da fällt mir ein: Vor rund zwei Jahren waren wir schon einmal an einer Feldbegehung in Müstair. Damals hat Johannes Fallet am Morgen den Wolf gesehen. Und erzählt, dass eine berühmte Modemacherin aus Basel sich angemeldet habe, um Roggenstroh zu holen, aus dem sie dann Hüte zu machen gedenke. Sie war da, hat das Stroh geholt, auf den versprochenen Hut wartet er noch immer. Hut Ding will Weile haben, gell! Auf morgen habe sich ein Filmteam angekündigt, um einen Müeslispot aufzunehmen. Es läuft was in Hollywood Müstair. Im Moment seien zwei Wölfe in der Gegend unterwegs.

Strahlend blaut der Himmel, durchsetzt von ebenso strahlend weisser Wolkenwatte. Fantastisch, die verschiedenen Grün von Wäldern und Wiesen. Darin leuchtet manchmal Goldgelb eines der teilweise auch noch grünen Felder der Produzenten für Gran Alpin. Grün auch der Ausreisser des Tages: Augustin Oswald hat quasi aus Not ein Speisehanf-Feld angelegt, um dem wuchernden Un-, ah, Pardon!, Beikraut einen Riegel zu schieben. Ausreisser auch darum, weil das Feld nichts mit Gran Alpin zu tun hat. Der Hanf kann ebenfalls mit dem Mähdrescher geerntet werden. Eine Frage auf dem angehefteten Informationsblatt lautet, ob man diesen Hanf rauchen könne. Antwort: Ja, das kannst du. Die Wirkung ist etwa gleich berauschend, wie wenn du Kopfsalat rauchst.


Die Genossenschaft Gran Alpin widmet sich ausschliesslich der Förderung des Bio-Getreideanbaus in Graubünden. Die heutige Feldbegehung wurde von Johannes Fallet angeregt, der im Gran Alpin-Vorstand ist und seit Jahren verschiedene Bio-Getreide anbaut und auch Saatgut züchtet. Er verfügt also über grosse Erfahrung, die er auch gerne weitergibt und vergrössert. Bei einem sehr schönen Feld, dessen Besitzer nicht dabei ist, sagt er, das sei der einzige Winterweizen, der in diesem Klima bis jetzt durchgekommen sei. Versucht habe man schon einige Sorten, um welche Sorte es sich hier handelt, wisse er noch nicht. Ich bin mir sicher, dass er das bald heraus hat, um selber ein Feld anzulegen. Wer nichts wagt, nichts gewinnt. Und Experimentieren mit Verstand gehört ebenso zum innovativen Berggetreidebauern wie lehrreiches Scheitern.



Auch diesmal zeigt sich, dass der Austausch zwischen den Getreidebauern äusserst wertvoll ist. Denn immer wieder stehen selbst die erfahrensten Leute vor einem Rätsel, warum ein Feld glänzend herauskommt, ein anderes von wildem Senf, Bärenklau oder Blacke durchsetzt ist. So können sich zwei nebeneinander liegende, gleichentags ausgesäte Weizenfelder völlig unterschiedlich entwickeln. Das eine hat vielleicht mehr Bodenfeuchtigkeit, wurde aber im Frühling nicht gestriegelt. Und so fort. Man redet über eigene Erfolge und Misserfolge, sucht mögliche Gründe und Lösungen. Und das Wichtigste: Nicht jeder wurstelt für sich, man kommuniziert miteinander.
Viele Faktoren spielen eine Rolle – neben der geeigneten Getreidesorte beispielsweise Bodengeschichte, -beschaffenheit und -behandlung, aber auch Lage, Wetter und Zeitpunkt der Aussaat. Ich glaube, es war in Sta. Maria, wo Johannes Fallet bei einem Sommerweizenfeld sagt, der etwas schüttere und kurze Bewuchs deute auf Notreifung. Worauf der Feldbesitzer Engerlinge als Schuldige benennt, die sich an den Wurzeln gütlich tun. Und siehe da, ein bisschen gewühlt, schon liegt die erste Landkrevette frei, die später mal als Maikäfer wiederkehren wird. Johannes bestätigt meine These: Das Glück würfelt bis zur Ernte immer mit, auch wenn man alles richtig macht.



Das Val Müstair bildet seit 2010 zusammen mit dem Parc Naziunal Svizzer und der Gemeinde Scuol die UNESCO-Biosfera Engiadina Val Müstair. Das verpflichtet zu sorgsamer Landwirtschaft. Und bei allen Negativmeldungen von schädlichen Pestiziden, problematischen Monogrosskulturen und unwürdigen Massentierhaltungen scheint mir immer wieder, als entwickle man hier im Zukunftslabor Graubünden zumindest ein gutes Stück der umweltfreundlichen Landwirtschaft von morgen. So lebendig, wie die Selbstverständlichkeit, miteinander Romanisch zu sprechen, diese sympathisch klingende Rätselsprache mit den vier Idiomen. Sie stellt nie eine Hürde dar; wenn mir wieder mal alles Spanisch vorkommt, frage ich und erhalte umgehend die Antwort auf Schweizerdeutsch.

Insgesamt sei man mit dem Getreidejahr 2019 zufrieden, meint Johannes Fallet später bei Kaffee, Cola und Mineralwasser. Eine Stange Calanda folgt dann aber doch auch noch, bevor alle wieder ihrer Wege ziehen. Während ich aus Jux ein Foto in der Beiz mache, um der Welt zu zeigen, wie die Bergbauern hier oben arbeiten, kommt prompt die Retourkutsche, man schicke ein Foto von mir mit dem Calanda-Bier in die Brauerei Locher nach Appenzell. – Hm, da lass ichs wohl besser mit dem Whistleblower-Föteli. Viva!
Hier noch einige nicht erwähnte Bio-Berggetreidesorten, die wir besichtigt haben:


