Quöllfrisch unterwegs in Tartar GR
Nach der Ernte ist vor der Aussaat: Gran Alpin organisiert zusammen mit dem Plantahof einen Flurgang zur bodenschonenden Stoppelbearbeitung in Tartar. Das hat nichts mit Bärten zu tun, vielmehr mit der Oberflächenbehandlung des Bodens nach der Getreideernte.
Mittwoch, 17. August 2023. Heute kommt Quölli mit, um mich von Thusis nach Tartar zu bringen. Ich überlege mir das immer gut, denn die Sache mit Velo und SBB ist nicht immer so einfach wie hochglänzend versprochen. Ebenso weiss man im grossen Gebirgs- und Tälerkanton Graubünden nie so richtig, wie der Weg zum Ziel herauskommt. Nachträglich ist klar, auch mit ÖV, also Bahn und Postauto, wäre ich tipptopp nach Tartar gekommen. Von der Haltestelle bis zum Hof von Curdin Caduff sinds rund 50 Meter.
Es ist heiss. Eine für diese Jahreszeit mal wieder rekordverdächtige Hitzewelle treibt den Schweiss schon am frühen Morgen aus allen Poren. Kurz darauf wird auch die höchste je verzeichnete Nullgradgrenze auf 5298 m ü.M. gemessen, so dass es an dem Tag in der gesamten Schweiz an keinem einzigen Punkt ausserhalb der Gefrierschränke Minusgrade gibt. Sogar Meteorologen seien überrascht über den Zeitpunkt, unkt der Blick. Das Wetter kapriolt von Rekordextrem zu Rekordextrem. Und schon sitze ich ein paar Tage später schreibend – natürlich unter Dach – im Dauerregen, der in der Schweiz und in andern europäischen Regionen Überschwemmungen und Murgänge verursacht. Es ist kühl, die Nullgradgrenze sinkt.
Derweil kündigen die Wetterfrösche eine nächste Hitzewelle mit 30 Grad und mehr an. Die Nullgradgrenze steigt erneut über 5000 m ü.M. und: Nach Spanien erlebt auch Griechenland schwere Überflutungen. Die Wärme in Mitteleuropa hängt damit zusammen. Ein «Omega-Hoch» blockiert das Wettergeschehen. Die Folge sind Hitze in Frankreich und extreme Regenfluten an den Rändern Europas. In Griechenland – wo vor kurzem noch extreme Rekordwaldbrände wüteten – sei noch nie in so kurzer Zeit soviel Regen heruntergekommen. Und und und. Heissester Sommer seit Aufzeichnungsbeginn. Von Juni bis August die heissesten drei Monate mit der höchsten globalen Durchschnittstemperatur. Wahrscheinlich wirds auch das heisseste Jahr seit Messbeginn. – Aber jetzt erst mal auf zum Heinzenberg!
Barrierebehafteter Velotransport mit einer Tageskarte zum Preis von zwei
Wers nicht weiss, ist der Lackierte: Velo-Plätze gibts im reservationspflichtigen ICE nur im vordersten oder hintersten Wagen. Steht man also falsch, kommt zum Reinhieven noch das stressige Seckeln mit Velo mit und gegen den Fussgängerstrom. Eine Mutter mit drei Wimmelnkindern und Velos im Vollstress bestätigt meine Beobachtungen. Manches ist in den letzten Jahren zwar verbessert worden, aber es gibt immer noch keine Hebehilfen, um die Räder an die hoch montierten Wandhaken zu hängen. Ich werde den Eindruck nicht los, dass die SBB nicht würkli gerne Velos transportiert.
Das beginnt schon bei den am Tag vor der Reise gelösten Online-Tickets. Ich muss ja mein Personenticket, Quöllis Velo-Tageskarte und die obligatorische ICE-Veloreservation lösen. Halbe bis ganze Stunde Arbeit, im Fall. Man sollte meinen, heutzutage flutsche das in einem Zug, indem man das eigene Ticket löst und dabei Kreuzchen machen kann für die andern beiden Optionen plus allenfalls zusätzliche Sitzplatzreservierung. Denkste! Alles nicht so doll aufgegleist. Jedesmal suchen, klicken, ärgern. Kommt dabei etwas dazwischen oder die üblichen Später-versuchen-Digishit-Meldungen vergrämen Bestellung und Besteller:in, kann sich locker ein menschlicher Fehler einschleichen. Beispielsweise falsche Datumswahl für die Velo-Tageskarte. Noch mühsamer gestaltet sich die Online-Suche nach der ICE-Reservation, aber da lasse ich euch mein verhallendes Fluchen erahnen und schweige vornehm. Graue Haare hatte ich schon zuvor. Punkt. Schluss. Amen.
Ein Glück, dass ich instinktiv den Erstklassaufschlag bezahlt habe (aber keine Sitzplatzreservation, die mich eventuell durch den ganzen Zugtatzelwurm geschickt hätte), so kann ich mich ins Abteil gleich neben den Veloplätzen hinter dem Lokführer setzen, wo ich in Ruhe arbeiten kann. Bis der Kondukteur kommt. Kurz denke ich noch drüber nach, weshalb es genau hier Erstklassplätze gibt – Pustekuchen, vergiss es! Der SBB Schienenwege sind unergründlich.

Der trockenhumorige Kondukteur konstatiert humorlos sachlich, dass die Velotageskarte abgelaufen, weil von gestern, sei und er ja nicht wisse, ob ich gestern mit Quölli Zug gefahren sei. Ja, klar, auf dem Sofa beim Laptop-Mensch-ärgere-dich-Bestellspielchen. Er gibt sich grosszügig beim Verzicht auf den Zuglöse-Zuschlag, verlangt aber doch noch einmal 14 Franken für eine Papiervelotageskarte. So kostet sie mich also glatte 28 Stutz. Selber tschuld, ich Tubel, gell! Dein Kunde, der Schwarzfahrer, der gestern gelöst hat, aber heute mit einem schäbigen Trick bescheissen will. Logisch. Das ist grundehrlich herzliche Kundenfreundlichkeit. Der Zug des Lebens rattert weiter. Der Kondukteur auch. Nun habe ich Ruhe bis Chur, wo ich umsteigen muss und Quölli barrierefrei und voll easy in die Rätische Bahn reinschieben und mit Sicherheitsgurt vor dem Umfallen bewahren kann. Nächster Halt: Thusis.

Oh, wusste ich nicht (NZZ, 1.9.23): Thusis war der wichtigste Ort auf der Viamala-Strecke und ist heute noch ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Die Autobahn 13 von Chur nach Bellinzona führt hier vorbei, und im Bahnhof halten die Schnellzüge ins Engadin. […] Ab 1823 erlebte der Ort einen ungeahnten Wirtschaftsboom. Angesichts der grossen Zahl von Warentransporten boten immer mehr Einheimische Verpflegungs- und Übernachtungsmöglichkeiten für die Kutscher und ihre Pferde an. Handwerker reparierten einen Wagen nach dem anderen, Schmiede beschlugen massenweise Hufe. In den Dorfläden gingen «exotische» Waren über den Tresen. Dieser Aufschwung brachte einen gewissen Wohlstand für die Bevölkerung. Und er lockte auch die ersten Touristen Europas an. An der Hauptstrasse von Thusis steht ein Zeitzeuge: Das ehemalige Grand-Hotel Viamala feiert heuer 300 Jahre seines Bestehens. Die ersten hundert Jahre war es eine simple Unterkunft für Säumer und deren Maultiere. Nach der Eröffnung der Commercialstrasse entwickelte sich die Herberge rasch zum vornehmen Grand-Hotel. Nun ist es von einem Baugerüst umgeben. Es entstehen nun Eigentumswohnungen. Somit wird das Hotel zum Sinnbild für den plötzlichen wirtschaftlichen Aufschwung und den späteren Niedergang.
Thusis-Tartar: Quölli kaum gefordert
Dass ich jetzt zu einem bereits abgeernteten Feld statt zum Dreschen fahre, ist irgendwie symptomatisch für dieses Jahr. Bis auf die Winterbraugerstenernte in Chur habe ich praktisch alle verpasst. (Hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag «Bio-Winterbraugerstenernte 2023 auf dem Plantahof Chur-Waldhof».) Entweder weil alles früher stattfand oder weil ich einfach keine richtige Jahreszeiten-Orientierung gefunden habe. Wahrscheinlich letzteres. War nicht grad Neujahr? Und nun ist schon wieder Mitte August, bis der Bericht fertig ist, haben wir – oje, tatsächlich! – Mitte September. Mer nämeds, wiäs chunt. Es isch, wies isch.

So pedale ich nach dem auf 720 m ü.M. liegenden Thusis die Serpentinen auf 911 m ü.M. hoch zum kleinen Dörfchen Tartar, das mit seinen rund 160 Einwohner:innen zur politischen Gemeinde Cazis gehört (auf den 1. Januar 2010 fusionierten Cazis, Portein, Präz, Sarn und Tartar zur neuen Gemeinde Cazis).

Unterwegs stosse ich einmal mehr auf Spuren des EWZ. Wenn ich dihei den Schalter drücke oder einen Kaffee rauslasse, so stammt der Strom tatsächlich von hier? Sackzement! Immer noch kaum vorstellbar, die mysteriösen Wege der Elektrizität, denkt der verlorene Stromerssohn. Obwohl mans irgendwie rational zu wissen glaubt, bleibts ein Wunder, gell. Und schon weht auch die Meldung herein, dass der EWZ-Tarif happig aufschlägt, was auch für Teile Graubündens gelte. Seufz!

Ist gar nicht so cheibe steil und auch Quölli packt die Hitze tipptopp, ohne zu bocken. Brav, Quölli, brav! Hüah-hü! Der E-Bike-Mech belehrte mich bei meiner letzten Schilderung des erschwerten Trampelns von Ilanz nach Morrissen kopfschüttelnd, dass Quölli eben nicht für die Berge geschaffen sei und der Motor seine Leistung drossle, wenn er zu heiss werde. Das Trampeln ist dann wirklich verdammt-verfllucht mühsam. (Hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag «Bio-Bergbraugerstenernte auf 1500 Meter ü.M. bei Ciril Arpagaus, Morissen GR. Koordinaten: 46°44’32.9″N 9°11’26.7″E / 46.742470, 9.190753».)
Kirche, kleine Grossbaustelle und Hof – alles im Dorf
Im Dorf mit Postautohaltestelle angelangt, werfe ich zuerst einen Blick ins Kirchlein, wo mir als Steinbildhauer nebst der heimeligen Holzstubenatmosphäre der Wandspruch über der kleinen Orgel ins Auge sticht, der nicht grad grosser Bewegungsfreiheit das Wort redet:
Lasst euch selbst
als lebendige Steine
in das Haus einfügen,
das der Geist Gottes baut.
1. Petr. 2.5

Dazu fällt mir ein, dass wir während meiner Steinbildhauerlehre in den 1980er Jahren mit der Berufsschulklasse in St. Gallen die neugotische Kirche St. Laurenzen im Zentrum besuchten, die aus drei unterschiedlichen Sandsteinen gebaut war, was bei der Planung niemand einberechnet hat. Diese Mauersteine arbeiteten derart unterschiedlich stark gegeneinander, dass vom Turm die ersten Steine zum Ende der über zehn Jahre dauernden Renovierung schon wieder heruntergefallen seien. Die Originalbalken sehen nur noch aus wie früher, sind aber chemisch in Plastik umgewandelt worden. Mich beeindruckte vor allem die Kraft, mit der scheinbar unbewegliche Mauersteine «atmen» und einander aufreiben können. Soviel zur Steinmetapher und den göttlichen Geisteskräften, die in einer hundsgewöhnlichen Steinmauer wirken.

Gleich nach der mittagsstillen Baustelle und der einstigen Dorfbeiz Alpina, die nun den Kulturverein Alpina beherbergt, liegt der Hof von Curdin Caduff. Eine Stunde zu früh stelle ich Quölli im neuen Unterstand ab. Kein Mensch da. High noon, alle am Zmittag. Auf der andern Seite warten liebevoll blumendekorierte Biertische auf den Umtrunk nach dem Flurgang.


Ich steige hinter dem Hof den Hang hinauf, wo ein abgemähtes Feld liegt. Sieht trocken aus, denke ich. Ein Teil wurde schon früher bearbeitet, auf dem unbearbeiteten Teil steht ein Traktor bereit. Drei weitere werden dazu kommen. Wunderbar, diese Stille in der Mittagsruhe, das Traumwetter mit dem blauen Weisswolkenhimmel, die warme Spätsommerbergluft und das Panorama. Instagramig geil!
Mise en place in der Mittagsstille

Im Zug habe ich «Stoppelbearbeitung» geguguselet. Die intensivste Stoppelbearbeitung sei das Pflügen, das aber mit einer Arbeitstiefe von 20-30 Zentimetern die Bodenstruktur verletzt und Regenwürmer tötet. Aber Samen, Stoppeln und auch Mist werden sauber in den Boden eingearbeitet. Der durchaus noch gebräuchliche Pflug ist inzwischen vielerorts schonenderen Formen der je nach Bedingungen gezielten, mechanischen Bodenbearbeitung gewichen oder mit solchen ergänzt worden. Etwas vom Wichtigsten für den Wassererhalt im Boden ist gerade in einer Region, in der es etwa gleich wenig regne wie im nahen Val Lumnezia, sehr wichtig. (Hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag «Reich wie Dagobert Duck an Goldtalern schwimmt Flurin Zinsli in güldner Braugerste».) Dazu sollte man nicht zu tief im Boden herumguseln. Eine der eindrücklichsten Erkenntnisse des Nachmittags sind für mich als Laien diese Hinweise auf den Wasserhaushalt des Bodens. Etwas, das angesichts zunehmender Trockenheit immer mehr Beachtung finden muss.

Deshalb entstehen statt der Monokulturen immer mehr wiederentdeckte, modernisierte, wasserschonende Landwirtschaftsformen wie Permakultur (sich ergänzenden Pflanzen ahmen Ökosysteme und Kreisläufe der Natur nach) und Agroforstwirtschaft (Schatten spendende Baumreihen auf Feldern lassen Getreide und Tiere besser gedeihen, schützen vor Austrocknung und Erosion des Bodens). Später wird Andreas Vetsch vom Plantahof staunen, wie feucht der Boden trotz fehlenden Regens noch ist und wieviel Regenwürmer sich drin tummeln.

Dass Regenwürmer bei uns nützlich sind, wissen wir schon aus der Schule. Dass sie beispielsweise in Übersee grosse Schäden anrichten, habe ich auch schon gelesen. Eingeschleppt durch den Menschen, arbeiten sie sich unterirdisch durch vorher regenwurmfreie Ökosysteme vor. Bis in die Arktis, wie der Spiegel unter dem Titel «Das gefährlichste Tier der Welt?» schreibt. Durch ihre Wühlarbeit setzen sie inzwischen auch in der tauenden Arktis grosse Mengen an Kohlenstoff frei und begünstigen das Austreten von Treibhausgasen. Ökologin Blume-Werry: «Wir sind gewohnt, Regenwürmer als etwas Gutes zu betrachten. Wir müssen lernen, dass sie je nach ökologischem Kontext auch Schädlinge sein können.» Jo, heimatzack! Was kommt da noch alles? Hier oben werden sie jedenfalls noch als Nützlinge begrüsst. Aber in einem Ökosystem, das bisher ohne sie funktioniert hat, stiften sie Chaos, das zur Abnahme der Artenvielfalt führt.

Charles Darwin habe übrigens ein charmantes Büchlein über Regenwürmer geschrieben, mit denen er auf seinem Wohnsitz experimentierte, schreibt Spiegelautor Johann Grolle im obgenannten Artikel: Jahr für Jahr, errechnete Darwin, würden in Grossbritannien 320 Millionen Tonnen Wurmkot aufs Land ausgebracht. «Ich wurde zu der Folgerung geführt, dass die Ackererde über das ganze Land hin schon viele Male durch die Verdauungskanäle der Würmer gegangen ist und noch viele Male durchgehen wird», resümierte er. Über mehr als vier Jahrzehnte hin führte Darwin daheim in seinem Landsitz Down südlich von London Experimente mit Regenwürmern durch. Er hielt sie in Blumentöpfen, die er zu Dutzenden im Billardraum seines Hauses aufgestellt hatte. Gemeinsam mit seinem Sohn Francis und seinem Enkel Bernard testete er das Gehör der Tiere (sie reagierten weder auf eine Trillerpfeife noch auf ein Fagott), ihren Gesichtssinn (sie sind weitgehend blind, können jedoch die Helligkeit von Tag und Nacht unterscheiden) und ihren Geschmack (besonders lieben sie Meerrettich, Karotten und wilde Kirschen).
Auch Brehms Tierleben (1922) zitiert Darwin aus obigem Büchlein, der den Regenwürmern, «den mit Vorurteil betrachteten und viel Angefeindeten, gewissermassen zum Ehrenretter geworden» sei: «Die Regenwürmer», sagt er, «haben in der Geschichte der Erde eine bedeutungsvollere Rolle gespielt, als die meisten auf den ersten Blick annehmen dürften. In beinahe allen feuchten Ländern sind sie ausserordentlich zahlreich und besizen im Verhältnis zu ihrer Körpergrösse eine bedeutende Muskelkraft. In vielen Teilen von England geht auf jedem Acker Land (0,405 Hektar) ein Gewicht von mehr als 10 Tonnen (10 516 kg) trockener Erde jährlich durch ihren Körper und wird an die Oberfläche geschafft, so dass die ganze oberflächliche Schicht vegetabilischer Ackererde im Verlauf weniger Jahre wieder durch ihren Körper durchgeht. Infolge des Zusammenfallens der alten Wurmröhren ist die Ackererde in beständiger, wenn schon langsamer Bewegung, und die dieselbe zusammensetzenden Teilchen werden hierdurch gegeneinander gerieben. Mittel dieser Vorgänge werden beständig frische Oberflächen der Einwirkung der Kohlensäure im Boden, ebenso auch der Humussäure ausgesetzt, die bei der Zersetzung des Gesteins noch wirksamer zu sein scheinen. Die Erzeugung der Humussäure wird wahrscheinlich während der Verdauung der vielen halb zersetzen Blätter, welche die Regenwürmer verzehren, beschleunigt. In dieser Weise werden die Erdteilchen, welche die oberflächliche Humusschicht bilden, Bedingungen ausgesetzt, die ihrem Abbau hervorragend günstig sind. Würmer bereiten den Boden in einer ausgezeichneten Weise für das Wachstum der mit Wurzelfasern versehenen Pflanzen und für Sämlinge aller Art vor.

Zur oben erwähnten Permakultur bzw. Agroforstlandwirtschaft findet sich in Le monde diplomatique vom September 2023 eine zu unserem Thema passende Passage von der leidenschaftlichen Gärtnerin Eva von Redecker:
Es müssten also sowohl CO2-bindende als auch fruchtbarkeitserhaltende Anbaumethoden entwickelt werden. Die vielversprechendsten Trends in diesem Bereich sind gärtnerischen Methoden viel näher als der rationalisierten Landwirtschaft, die gegenwärtigen Grossgrundbesitz ebenso prägt wie einst den real-sozialistischen Agrarsektor. Ein zentraler Trend sind zum Beispiel Versuche, einjährige Kulturen – vor allem Ackerfrüchte wie Getreide, aber auch Gemüsesorten – auf Mehrjährigkeit zurückzuzüchten. So können die etablierten Kulturen selbst die Beikräuter verdrängen, die Bodenbiologie wird nicht durch alljährliches Pflügen gestört und die bewachsene Bodendecke hält den Kohlenstoff in der Erde. Ein weiterer Ansatz baut auf die Integration von Bäumen in die Anbauflächen. Hecken und Baumreihen bieten Windschutz, speichern Feuchtigkeit und werfen dabei selbst auch Essbares ab.
Auch wenn die Wildnis auf diese Art in den Acker einzieht, wird die professionelle Landwirtschaft ihre Entscheidungen stets so treffen müssen, dass sie die Ernährung der Menschen vor der der Nachbarspezies priorisiert. Daneben braucht es Raum für spielerische – und zeitraubende – Exerimente. Ihr Ort sind die Gärten, in denen für den Menschen Geniessbares wächst und die auch darauf zielen, die Fülle für alle anwesenden Spezies zu erhöhen. Manchmal glückt dann, eher ungeplant, beides zugleich: Verwilderung und Kalorienproduktion.

Vier Traktoren, ein Speaker, eine Schaufel & richtig viele Interessierte – wir sind parat
Als ich wieder beim Hof ankomme, wo Quölli mit Eselsgeduld steht, treffe ich bei den blumendekorierten Bierbänken auf Curdin Caduff und Sandra Kunfermann, die sich einarbeitende zukünftige Betriebsleiterin von Gran Alpin. Aber es bleibt keine Zeit für ein Gespräch. Curdin nimmt einen Anruf entgegen und meint danach, wir müssten jetzt sofort hinauf zum Feld. Ein bisschen wie bei der Feuerwehr schwinge ich mich in den Sattel und galoppiere elektrisiert zum Feld, wo immer mehr Produzent:innen und Traktoren eintreffen.

Ich habe sie nicht gezählt, aber ich schätze, dass insgesamt über 50 Teilnehmer:innen mehr über Stoppelbearbeitung erfahren wollen. Zahlenmässig eindeutig der grösste Flurgang meiner doch schon rund sechsjährigen Quöllfrisch unterwegs-Karriere. Vor kurzem erlebte ich das Gegenteil, heisst: tiefste Teilnehmerzahl, beim Feldlerchen-Flurgang in Müstair. (Hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag «Wenn über uns, im blauen Raum verloren, ihr schmetternd Lied die Lerche singt*».)

Kein Wunder, schleppt Martin Roth vom Plantahof (Leiter Weiterbildung & Projekte) eine mobile Lautsprecherbox mit Headset heran, damit wir ihn alle verstehen können. Während Andreas Vetsch (Fachlehrer Ackerbau, Leitung Fachstelle Pflanzenschutz) ein Flipboard aufstellt und sich bis zum Veranstaltungsbeginn auf eine Schaufel stützt. Martin Roth betont in der Einführung noch einmal, dass eine der wichtigsten Aufgaben des heutigen Tages der Erfahrungsaustausch sei. Ist mittlerweile etwas vergessen gegangen, aber im Kern bedeutet Kultur im Grund vor allem genau das: Voneinander zu lernen, Wissen und Erfahrungen zu teilen, aus Erfolgen und Misserfolgen zu lernen. Und Kooperation statt Konkurrenz.

Die heurige Getreideernte ist schon eingefahren. Hoffentlich ertragsreich. Aber das ist noch nicht der Abschluss des Getreidejahres. Nach der Ernte ist vor der Ernte, beziehungsweise vor der nächsten Aussaat. Die Spätsommerhitze ist der richtige Zeitpunkt, um mit Stoppelbearbeitung, Beikraut-Management und Feldhygiene gute Voraussetzungen für das Gelingen der Fruchtfolge zu schaffen und den Boden für die nächste Aussaat vorzubereiten.
Unterschiedliche Bodenbearbeitung je nach Folgekultur

Andreas Vetsch übernimmt. Ohne Mikrofon, aber mit Schaufel und Filzstift für den Flipchart. Er sammelt unter den Anwesenden die Stichworte der Ziele der Stoppelbearbeitung nach der Ernte, die er notiert:
- Pflanzen / Unkraut (Ausfallgetreide / Samenunkräuter / Wurzelunkräuter)
- Ernterückstände
- Wasser
- Boden mischen
- Pflanzenschutz

Der Theorieteil ist kurz und sachlich. Es gibt nicht die eine richtige Methode der mechanischen Stoppelbearbeitung. Wichtig ist es, möglichst schnell nach der Ernte zu handeln, da die Kapillarwirkung der noch intakten Wurzeln dem Boden viel Wasser entzieht. Wasser aber soll möglichst im Boden verbleiben. Zumal auch am Heinzenberg im Normalfall sehr wenig Regen fällt. Bearbeitet man nun nur wenige Zentimeter an der Oberfläche, so werden die Kapillaren zerstört, das Stroh eingearbeitet und es bildet sich relativ rasch wieder ein Deckel aus trockener Erde, der das weitere Verdunsten hemmt. Und fällt seltener Regen, ist die Wassereinsickerung besser. Bei mehrmaliger Bearbeitung dürfe man auch nicht den Fehler machen, zuerst tief zu grubbern. Da verdunste richtig viel Wasser. Zuerst immer flach anfangen, nachher tiefer. Zudem soll man die Fahrtrichtung ändern, damit man nicht immer in die gleichen Furchen zu arbeiten. Prinzip Linzertorte über den Acker legen. Fast schon philosophisch. Auf ausgetretenen Pfaden kommt man nur dort an, wo man schon gewesen ist, quasi.

Aber eben: Je nach Folgekultur und Beikrautverhalten, empfiehlt sich eine unterschiedliche Bearbeitungsstrategie. Nach der Rapsernte sei es schon fast eine Sünde, wenn man am nächsten Tag die vielen Samen eingrubbere, weil man sich so Raps für zwölf Jahre schaffe. So empfiehlt sich, die Samen erst auskeimen zu lassen und dann die Bodenbearbeitung durchzuführen. Wurzelunkräuter wie Blacke, Winde, Ackerkratzdisteln oder Quecke hingegen müsse man so richtig plagen, bis die Würzelstücke nicht mehr die Kraft haben, auszutreiben. Das braucht Zeit und Geduld. Über Wochen. Wichtig auch, dass untergemischte Ernterückständebund Stroh möglichst schnell verrotten, was durch Stickstoffbeimischung (Gülle, Mist) gefördert wird. So können Krankheiten vermieden werden. Er führt auch diverse Probleme mit Krankheiten aus. Es ist immer wieder faszinierend zu sehen, wieviel Arbeit, Wissen und Wetterlotterie hinter unserem täglich Brot oder einem quöllfrischen Feierabendbierchen steckt.

Andreas Vetsch schaufelt ein kleines Loch und staunt über die noch vorhandene Feuchtigkeit in zehn Zentimetern Tiefe. Er zeigt auf die flimmernde Luft Richtung Tal. Dort verdunste im Moment sehr viel Wasser. Sie hätten mittels Versuchen auch festgestellt, dass auch in der trockensten Nacht grosse Wassermengen im Boden verlorengehen. Mir wird als Balkongärtner da erst so richtig bewusst, wieviel man durch geschickte Bodenbearbeitung auch Wassermanagement betreibt. Auch bezüglich Regenwürmer sieht der Boden hier gut aus. Es sei verrückt, wieviele Regenwürmer sich hier tummeln, freut er sich. Wäre es trocken, müsste man tiefer graben, um sie zu finden.
Fruchtfolge: Zweimal Weizen, einmal Gerste, dann Kunstwiese

Curdin Caduff schildert, was er auf dem Feld gemacht hat. Im August 2022 war hier Kunstwiese mit Luzerne, die er umgepflügt hat. Winterweizenaussaat im Oktober. Sorte Rosatch (laut Sortenblatt: sehr hohe Proteinwerte; gute Backeigenschaften; sehr gutes Hektolitergewicht; sehr gute Krankheitsresistenz; gute Unkrautunterdrückung). Im Frühling einmal Güllengabe, einmal gestriegelt. (Hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag «Feldbegehung: Blindstriegeln bei Traumwetter».) Vor drei Wochen, also Ende Juli, wurde die Ernte eingefahren. Die Fruchtfolge bei ihm sei immer zweimal Weizen, einmal Gerste, dann wieder Kunstwiese. Und er müsse früh säen, Anfang Oktober. Auf diesem Feld wird also nächstes Jahr wieder Weizen stehen. Beim Nachbarfeld habe er nach der Gerste zuwenig Geduld gehabt beim Aussäen der Kunstwiese, nun habe er recht viel Gerste drin. Das sei aber nicht so schlimm, die Kühe fressen das auch.
Zufällig fällt mir das Büchlein «Arnold Schnyder: Anleitung für den Getreidebau» von 1935 über Getreidebau in die Hände, wo es zur Fruchtfolge heisst, dass Weizen in der Fruchtfolge sehr empfindlich für Fusskrankheiten sei. Der Grund sei, «dass jede Getreidestoppel der Weizensaat die sogenannte Fusskrankheit überträgt. Wenn also Weizen oder Korn in zweiter oder dritter Getreidetracht folgen, werden sie von Wurzelpilzen befallen, die ein frühzeitiges Absterben der Getreidepflanzen zur Folge haben. Man beobachtet, dass die kranken Pflanzen am Wurzelwerk und Halmgrund schwarz sind; daher die Bezeichnung Fusskrankheit. Diese Infektion tritt nicht auf, wenn als Vorfrucht kein Getreide angebaut war, sondern entweder Hackfrüchte oder Kleegras, bewz. Naturwiesen. Jetzt kommt die Gerste ins Spiel: «Von den andern Getreidearten wird nur die Gerste gelegentlich von der Fusskrankheit befallen. Wir stellen sie prinzipiell in das 2. Getreidejahr. Auffallend ist, dass Weizen, nach Gerste gebaut, besonders stark von der Fusskrankheit heimgesucht wird. Nie darf daher nach Gerste Weizen gesät werden.»
Lassen wir die verschiedenen Maschinen sprechen
Dann kommt fast ein bisschen Formel 1-Stimmung auf. Der erste Traktor fährt zwei Bahnen mit der Scheibenegge. Ich staune über das Tempo. Er rast richtiggehend vorbei. Nach jeder Demonstration buddelt Andreas Vetsch mit beiden Händen die lose Erde weg, um zu sehen, wie tief gearbeitet wurde und wie die Struktur aussieht. Der Fahrer stösst dazu und erzählt von seinen Erfahrungen mit Gerät, Bestückung und Einstellung. Fast immer sieht man Gräben, die aber bei einer zweiten Durchfahrt in versetzter Richtung (Prinzip: Linzertorte) weg sind. Fragen werden gestellt und beantwortet.
Es sei bei jedem Gerät wichtig, das richtige Tempo und Einstellung zu finden, um das gewünschte Resultat zu erzielen, das, wie wir wissen, von Bedingungen, Bestückung und Fruchtfolge abhängt. Die Funktionen der einzelnen Bearbeitungsgeräte mit Scheiben, Zähnen und andern Elementen werden nicht im Detail erklärt und ich sehe einfach, dass sie schneiden, reissen und umwälzen. Natürlich wirbeln sie Staub auf und klingen metallisch. Sie müssen mit dem verbliebenen Stroh und den zahlreichen Steinen klar kommen. Steine können auch mal zu gefährlichen Geschossen werden, wenn man nicht aufpasst.
Wer sich tiefer mit den unterschiedlichen Bearbeitungsmethoden beschäftigen will, findet im Internet viel Material. Ich lasse vorläufig mal laienhaft die Bilder sprechen, ohne sie möglicherweise noch falsch zu kommentieren und mich in all den Scheiben und Haifischzähnen zu verheddern.
Traktor 1: Scheibenegge






Traktor 2: Federzahnegge








Traktor 3: Flügelschargrubber




Traktor 4: Güttler Super Maxx






Zwei Traktoren auf dem früher schon bearbeiteten Boden: Prinzip Linzertorte.
Umtrunk & Aufbruch

Beim Umtrunk danach, rennt Curdin Caduff x-Mal mit zwei Wasserkrügen hin und her. Niemand hat mit einer so grossen Teilnehmerzahl gerechnet. Ich genehmige mir ein Gran Alpin Bier – und ein Stück Linzert…, äh, Bündner Nusstorte.


Nach der ersten Erfrischung stellt sich die zukünftige Geschäftsführerin von Gran Alpin Sandra Kunfermann kurz vor und verdankt zusammen mit Chloé Berli diejenigen, die zum Gelingen des Flurgangs beigetragen haben, mit einem kleinen Geschenk aus Gran Alpin-Produkten.

Ursin Tiris, dessen Braugerstenfeld in Andeer wir bei einem Flurgang besichtigt haben erzählt mir nebenbei, dass die Ernte seines damals mit «gut» bewerteten Feldes, ganz schlecht gewesen sei. Richtig schlecht. (Hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag «Flurgang mit Braugerstenabgang & das Beverin-Wolfsrudel».) Der Berggetreideanbau sei ja mehr oder weniger ein Hobby. Ein professionelles zwar. Eines, das er mit Leidenschaft betreibe. Aber ein Hobby. Und trotz der Gebundenheit an Jahreszeiten und Wetterglück bedeute es für ihn auch Freiheit.

Aber eben: Dieses mit Herzblut, Experimentierfreude und Erfahrungswissen ausgeübte Hobby ist wahrscheinlich mehr Wert abstraktes Tausch- und Täuschmittel Geld, das keinen fruchtbaren Boden braucht, um zu wachsen und darum munter Wüsten aller Art erzeugt. Der vom Menschen, vom Wetter und vom Boden abhängige Bio-Berggetreidebau ist Leben. Ist Wirklichkeit. Es ist trotz des erstaunlichen Menschenwissens – das unter dem weiten Himmelszelt immer nur ein Rudimentärwissen, ein Nichtswissen ist und bleibt, egal, wie komplex es Genome entschlüsselt und crisprt und künstlich-intelligent Monde, Märse und Sonnen befliegt, umkreist, besiedelt und so fort – nach wie vor ein Wunder, was aus trockenen Samen alles wachsen kann. Zum Kochen. Zum Züchten. Zum Fressen und Essen. Zum Brauen.
Food ohne Terroir ist mir ein Graus. Man vergleiche nur schon mal wieder bewusst möglichst viele unterschiedliche Sorten aus der verblüffenden Vielfalt des Tomatenuniversums, wenn die Beeren (zu denen Tomaten gehören) noch Zeit, Boden und Sonne haben, um saisonal zu reifen. Die echte Saison ist kurz. Da verzichte ich gerne aber noch so gerne auf all die immergleichen, prallen, dünnhäutigen Ganzjahreswassersäcke. Es gibt laut Gran Alpin-Mitgründer Hans Caspar Trepp übrigens wissenschaftlich eindeutige Belege, dass das Berggetreide aus Höhenlagen über 1000 m ü.M. nachweislich vitaler und kraftvoller sei als Getreide aus tieferen Gefielden. Dessen bekömmliche Kraft steckt auch im Gran Alpin-Bier, das die Brauerei Locher daraus braut.
Dieses professionelle Bio-Berggetreidebau-Hobby der lokal agierenden Gran Alpinler:innen gehört in den Bereich des nicht Bepreisbaren. Es gibt zwar eine Entschädigung, die aber niemals dem eigentlichen Wert entspricht (auch so ein Grundproblem der heutigen Lebensmittelproduktion). Und damit wurzelt sie genau da, wo jedes eigentliche Leben wurzelt: Im Unbezahlbaren, das weder Preis noch Spekulation noch Saatgutmonopolpestizidpatentantwält:innen kennt. Hier wird ein echter Mehrwert geschaffen in der Artensterbenwüste des Grossen Immermehrmeers. Es bereitet den Boden für das zarte Pflänzchen Hoffnung, aus dem im Zusammenspiel mit weiteren Landwirtschaftsinnovationen eine zukunftsfähige Landwirtschaft erwächst. Und mit der biologischen Wiederbelebung des Berggetreideanbaus aktiviert Gran Alpin – und damit auch die Brauerei Locher – ein Lebensmittel-Kulturgut, das längst Welterbestatus verdient hätte.
