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Eine von 148 geschnitzten Holzkühen ist ein schwarzes Schaf aus grauem Speckstein

Quöllfrisch unterwegs auf einer Zeitreise im und ums Brauchtumsmuseum Urnäsch AR

Das Recht, seine eigenen Gedanken frei zu äussern, wird nutzlos, wenn einem die passenden Gedanken bereits im Voraus in den Kopf gepflanzt wurden.

Sergei Gerasimow, NZZ, 4.3.23

Valentinstag, 14. Februar 2023, 5.30 Uhr. Lange ists her, inzwischen ist der Februar vorbei, Kälte und Schnee sind angekündigt, die dann sofort von einer veritablen Wärmewelle abgelöst werde. Das Ganzjahres-Aprilwetter ist in Hochform. Auch im Kopf, zumindest in meinem. Immer kommt alles anders, als gewollt. Schon wieder zwei Stunden nur nervenaufreibend telefoniert, gemailt, Handstand gemacht, nichts erreicht. Der italienische Zoll will allein für das Durchlassen eines defekten Verstärkers zur Reparatur beim italienischen Hersteller 300 Stutz kassieren; retour wohl dieselbe. Wegelagerei von Amtes wegen, ohne irgendwelche Leistung. Aber wie ich zu sagen pflege: Man muss das Leben – das bekanntlich kein Hochglanzprospekt ist – angehen, wie es kommt. Es isch, wies isch.

Auch wenn das Zmorgen-Ei mal wieder steinhart herauskommt. Auch wenn einem grad zum zweiten Mal innert kurzer Zeit der 34-fränkige Butterplattendeckel von der Glasi Hergiswil aus der Hand schlipft, in tausend Stücke zersplittert und es nicht scheint, dass Scherben würkli Glück bringen. Von der beunruhigenden Rechnungsflut ganz zu schweigen. Und von Geräten, die den Geist aufgeben. Das Macbook wird oft unglaublich heiss und arbeitet so langsam, dass Arbeiten unmöglich ist. Und ist das vorbei, gibts garantiert Netzprobleme. Der Künstliche Intelligenzquotient ist in Wirklichkeit beschämend, das papierlose Büro immer noch und immer mehr Makulatur, der grassierende Weltrettungs-Hightechwahn vollführt gspässigere Kapriolen als das Wetter und löst nicht mal die Probleme, die wir nie hatten. Und und und. Time is faster, faster than your mind… times are really changing.

Kaum willst du endlich mal Worte mit mehr oder weniger Köpfchen in die Tastatur schmettern, hauts dich mit verklebter Birne in die Pfanne. Ob Corona, Grippe oder gar ein unbekanntes Virus holt keine müde Fledermaus mehr von der Höllochdecke. Die nächste Pandemie kommt bestimmt, obwohl in Urnäsch bis heute diverse Kleber behaupten, Corona sei vor allem ein Bier. Und schon schreitet der März flott gen Mitte. Manchmal ist es schlicht zum Haaröl seiche, wie der Volksmund – zumindest früher – in mir schleierhafter Weise zu sagen pflegte. Wieso genau Haaröl seiche? Kuh mit Pferdehaar-Haaröl? Hm. Das Leben geht weiter. Es isch, wies isch. Der Vogel Strauss steckt ja seinen Kopf in Wirklichkeit nie in den Sand. Beginnen wir mit einem lebensfrohen Blumenstrauss. Erleben wir den Valentinstag hier und jetzt noch einmal unter dem weltoffenen Quöllfrisch-Aspekt – bevor der von Blick und NASA angekündigte Asteroid 2023 DW die Erde ausgerechnet am Valentinstag 2046 trifft.

Verschenken Sie einen frisch gezapften Strauss Quöllfrisch-Tulpen zum nächsten Valentinstag – oder einfach so zum Frühlingsanfang!

Vier Millionen Rosen würden zum Valentinstag allein in der Schweiz verschenkt. Da ist sie wieder, diese ungeheure Zahl, wenn man in unserer Zehnmillionenschweiz alle Einzelfaktoren auf einen Gesamthaufen zusammenrechnet. Stellt euch mal vor, es würden zum Tag des Valentin (who the fuck ist eigentlich dieser Valentin? Und warum heisst es nicht Valentinas-Tag?) vier Millionen frisch gezapfte Tulpen Quöllfrisch mit Traumschaumkrone verschenkt. Das wär mal ein Strauss! Ja, klar: alkoholfrei, logo! Prost mitenand! Muesch denn aber seckle, damit s Schumchrönli schö achunt!

Tulpen aus Appenzell: Quöllfrische Geschenkidee für den nächsten Valentinstag – aber auch für andere Herzangelegenheiten. Strausskreator: alp

Flott schmettert der Amselmann seinen Minnesang in den Nebel hinaus.

Nun treten wir also eine Reise in die Vergangenheit an, die in jüngerer Vergangenheit stattgefunden und unter anderem längst vergangene Zukünfte zum Thema hat. Tscheggsches no, hoi!? Dazwischen legte Frau Holle ein bisschen Schnee auf die Welt, der hier in Zürich aber kaum den Boden berührte. Es hiess, die ganze Woche sei schönes Wetter. Und frühlingshaft warm. Jedenfalls zu trocken. Schon am hochnebeldeckligen Montag kam die Sonne erst am Nachmittag zum Strahlen. Davor wars ordli kalt.


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 Die Ge -- | dan -- ken sind | frei, wer | kann sie er -- | ra -- then?
 Sie | flie -- gen vor -- | bei wie | nächt -- li -- che | Schat -- ten.
 Kein | Mensch kann sie | wis -- sen, kein | Jä -- ger sie | schie -- ßen.
 Es | blei -- bet da -- | bei: Die Ge -- | dan -- ken sind | frei.
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Aus «Schlesische Volkslieder mit Melodien: Aus dem Munde des Volkes» von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben und  Ernst Heinrich Leopold Richter, 1842 .

Und nun in aller Herrgottsfrühe schon dies: I got up this morning, looked out the window and saw the mist dancing around the streetlight. Gestern Hochnebel, heute löffeln wir Nebelsuppe. Ganze Woche schön! Tja, soviel zu unseren hochtechnisierten Wetterfröschen. Aber in gspässigem Kontrast zwitschert irgendwo unsichtbar in der Nacht ein Amselmännchen seinen kunstvollen Minnesang. Hör ich da etwa die Melodie von Die Gedanken sind frei? Na, vielleicht bin ich nur noch nicht ganz quöllfrisch. Jedenfalls, danke, du früher Vogel fängt den Wurm! Das Leben ist nicht so nebeltrüb, wies grad tut. Und das Frühstücksei von einem andern Vogel ist auch gut gelungen – mit fast festem Eiweiss und noch flüssigem Eigelb. Der Tag kann kommen.

Vermöbelte Tramfahrt zum HB Zürich.

Im Tram lese ich eine Möbelwerbung: Der Baum, nachdem er vermöbelt wurde., und hänge Gedanken über das sprichwörtliche Vermöbeln, die serbelnden Wälder und die Herkunft der Bedeutung des Jemanden-Zusammenschlagens nach. Und schon sind wir mitten im Thema der sich wandelnden Zeiten. Wie Moden und Stile oder Traditionen und Bräuche passen sich Bedeutungen und Schreibweisen von Worten an die gesellschaftlichen Gegebenheiten an: Das Wort vermöbeln hatte anfangs wohl mehr mit verscherbeln, verkaufen, veräussern zu tun, als mit verdreschen, verhauen, verprügeln.

1000 Mark mit dem Deutschen Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm mit dem Stichwort FREIHEIT.

Im altehrwürdigen Grimm’schen Wörterbuch (das ab 1992 bis zur Einführung des Euros sogar die Tausend-Mark-Note zierte) heisst es: VERMÖBELN,  verb.  als  fahrende  habe verkaufen,  dann  überhaupt  fortschaffen,  seine  sachen  vermöbeln.  übertragen,  jemanden  vermöbeln,  einen  arg  mitnehmen,  wol  einen  wie  ein  hausgerät  (stuhl,  sopha)  durchklopfen,  stets  mit  einer  spöttischen  nebenbedeutung.  zu  vergl.  das  fremdländisch lautende vermöbiliren: das  ist eine wohlfeile  lampe,  sagte  der  leinweber  zu  seiner  frau,  willst du  sie  nicht  etwa  auch  vermöbeliren,  wie  du  die  200  thaler  vermöbelirt  hast?  Bechstein mährchenb. (die drei gaben).

Im Herfkunftswörterbuch kommt noch das aufmunternde Aufmöbeln hilfreich zur Sprache: aufmöbeln Vb. ‘aufmuntern, neu beleben’ (1. Hälfte 19. Jh., vielleicht die Vorstellung vom Aufarbeiten alter Möbel aufgreifend, Anknüpfungsmöglichkeiten bietet jedoch auch die Semantik des Adjektivs mobil, s. d.) und vermöbeln Vb. ‘verprügeln’ (Mitte 19. Jh.), älter in der ursprünglich studentischen Verwendung ‘vergeuden, durchbringen, zu Geld machen’ (vgl. studentensprachliches möbeln ‘Geld ausgeben’, beide Mitte 18. Jh.), die vermutlich unter dem Einfluss des Rechtsausdrucks Mobilien ‘bewegliche (und damit leichter zu veräußernde) Habe’ (s. d.) steht. – Auf unserer heutigen Zeitreise – denn wir reisen im Moment des Lesens mit der Zeitmaschine von Wort und Bild – wird das Vermöbeln auch für das epochale Möblieren der Welt, auch mit immobilem Inventar bis hin zu Strassen in unterschiedlichen Zeitepochen und Stilen, verwendet werden. In der Hoffnung des Augen und Geist öffnenden Aufmöbelns.

Dazu begleitet mich immer wieder der grossartige und viel zu unbekannte Erfinder der Promenadologie (auch Spaziergangswissenschaft und engl. Strollology) Lucius Burckhardt, dessen kulturwissenschaftliche und ästhetische Methode darauf abzielt, die Bedingungen der Wahrnehmung der Umwelt bewusst zu machen und zu erweitern. So zeigt er beispielsweise in Die Nacht ist menschengemacht* von 1989 – also weit vor der heutigen Energiekrisen- und Lichtverschmutzungsdiskussion – auf, wie der Mensch die Nacht im Zuge unsichtbaren Designs umgestaltet:

Strassenlampen sollen also möglichst nur die Verkehrsfläche erleuchten. Alle Fahrzeuge sind mit eigenen Scheinwerfern ausgerüstet; auf Autobahnen entfällt also die Notwendigkeit einer Strassenbeleuchtung. Dennoch beleuchtet beispielsweise Belgien seine ganzen Überland-Autobahnen und macht damit deutlich, dass die Beleuchtung heute weit über das technisch Notwendige in einen metaphysischen, wenn nicht theologischen Raum vorstösst: Der Mensch versucht, die Nacht in den Tag zu verwandeln. Sicherheit, um dies zu wiederholen, verschafft uns diese Beleuchterei nicht; weder faktische Sicherheit vor Verkehrsunfällen noch das Gefühl von Sicherheit. Es ist ähnlich wie in einem längst vergessenen Lustspiel aus den Dreissiger Jahren, in dem ein spät heimkehrendes Ehepaar zueinander sagt: «Vorn ist es so unangenehm hell und hinten ist es so unangenehm dunkel».

* Aus: Lucius Burckhardt: Design ist unsichtbar. Entwurf, Gesellschaft, Pädagogik. Martin Schmitz Verlag, Berlin 2012

Verschlafen harrt die tageshell erleuchtete HB-Halle der Menschen, die da kommen und gehen.

In der Halle des Zürcher Hauptbahnhofs wartet die Winter-Arena immer noch menschenleer auf Schnee (und auf Kundschaft, sobald geöffnet), die Leuchtspirale des Philosophischen Eis eiert neonrot und blauzahlig mit Vögeln und Hirschen vor sich hin, der Reiseengel chillt über mir mit seiner ebenfalls neonroten Ziehharmonika oder was immer das darstellen soll. (Hier gehts zu den Quöllfrisch unterwegs-Beiträgen «Choge schöni Wüeschti am Freitag, dem 13ten 2023» und «Der schlaue Fuchs güügelet vor dem Güggeli ein Glühbierchen auf der Terrasse des Güggeli-Sternens».) Mittlerweile ist die Pop-Up-Winter-Arena wohl weg, während Halle, Engel und Ei dahin gekommen sind, um zu bleiben.

Während sich die Nacht langsam davonschleicht und wir in den Tag fahren, bleibt der Nebel vorerst hartnäckig an der Scheibe kleben. Erst ab Wil SG beginnt die Sonne zu drücken, bricht in Uzwil durch und scheint ab Gossau in frühlingswarmer Taufrische. Inzwischen sind so ziemlich alle Mitfahrenden mit Leuchtbrettchen vor dem Kopf eingeschlafen. Jung wie Alt dösen friedlich vor sich hin, während die Sonne nun schon nervig schrill blendet. Beim Bahnhof Herisau hängen am Abhang vis-à-vis Eiszapfenformationen. Danach tanzt der nahende Säntis lüpfig mal vom linken Fenster zum rechten und umgekehrt. Fleckenweise liegt noch Schnee, aber eigentlich nicht der Rede wert. Übrigens seien bis zum Wintersaisonende 2022 schon über 42 Prozent der Schweizer Skiorte geschlossen worden, sagt Autor Daniel Anker, dessen Skitourenführer «après lift. 49 Skitouren auf EX-Bahn-Berge der Schweiz» genau solche Lost Ski Area Projects – LSAPs für Skitouren empfiehlt, die auch bei wenig Schnee durchgeführt werden können. Anders gesagt: Aus dem Après Ski ist Après Lift geworden. Life goes on.


Fast schon idyllische Appenzeller Bauernmalerei mit Frohsinn und Verstand im aufhellenden Wintermorgen: Der Säntis hüpft vor dem Zugfenster mal von links nach rechts und zurück.

Früh auf der Piste – nein, nicht zum Skifahren.

Schneesichere Schneemänner – im Prinzip sogar schneesicherer als der «Snowman» im Gefrierschrank des Künstlerduos Fischli/Weiss.*

Es sind die Winteröffnungszeiten von 9 – 11.30 Uhr des Brauchstumsmuseums Urnäsch, die mich so früh auf die Piste gerufen haben. Die freundliche Dame an Kasse, Kaffeebar, Museumsshop und Touristeninfo meint zur Frage nach den hier üblichen Bieren, dass die einen halt lieber Schützengarten mögen, die andern das quöllfrische Appenzeller Bier, drum gebe es hier oft beides. Aber die Brauerei Locher setze sich sehr für den hiesigen Skilift Osteregg ein (ich habe natürlich zuerst mal Oberegg gelesen). Der ist 700 m lang und führt von 850 auf 1080 m ü.M.

*Die Arbeit «Snowman» wurde nach einer ersten Ausführung für ein Kraftwerk in mehreren weiteren Versionen in Kollaboration mit der Kunstgiesserei St. Gallen unter vielem Tüfteln ausgeführt. Der Kunstschneemann enthält ein ausgeklügeltes System aus Kühlaggregaten in seinem mit Eisschnee überzogenen Kupferblechkörper. Nachdem das funktionierte, musste er in einer um ihn herum gebauten Sauna auf maximale Hitzebeständigkeit getestet werden. Er sollte auch bei 40°C nicht schmelzen. Zur regelmässigen Pflege gehören, nebst genug Strom: Putzen, Düsenkontrolle und Abtauen. Ein Exemplar steht seit 2020 bei der Fondation Beyeler in Riehen/Basel.

Im November letzten Jahres hat man einen Versuch gemacht, Bikes den Berg hochzuziehen: Im Anschluss an den Frontag wurde am Skilift ein Versuch durchgeführt, ob Bikes auf der bestehenden Anlage befördert werden können. Erfolgreich wurden Biker verschiedenen Alters mit einem Bügelsystem Caraventa Sports Tow auf den Berg gezogen. Ansonsten hoffen die Betreiber «auf einen schneereichen Januar und Februar 2023», denn für den Betrieb reicht der Schnee nicht. Aber den Après-Lift-Kater kann man vielleicht so verhindern. Und dann wär da noch das Bergrestaurant Osteregg mit Appenzeller Bier, wo ich angebrannt wäre: Wirtesonntage Mo-Di! Zum dort beworbenen schneereichen Winter schweige ich (fast) vornehm. Und auch davon, dass die Vorlieben beim Bier auch viel mit Gewohnheit zu tun haben und mit den Spätfolgen der früheren Bierkartell-Marktregulierung (1935-1991).

Bild: skilift-urnaesch.ch

Was hat die flächengrösste Gemeinde der äusseren Rhode mit Donald Ducks Entenhausen zu tun?

Urnäsch kennen wir ja bereits von meinem Besuch der Käserei, die den Holzfasskäse mit der Hornkuhmilch beigemischtem Appenzeller Holzfassbier produziert (hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag «Der Bergkäse von Hornkühen mit dem guten Schluck Holzfassbier im Laib»). Es gibt übrigens auch einen Brauchtumskäse. Dessen Werbung verortet die Bräuche in nebulösen Urzeiten: Im kleinen Dorf im Appenzeller Hinterland wird den Traditionen und dem Brauchtum grosse Sorge getragen. Viele Traditionsanlässe wie beispielsweise das Silvesterklausen oder das «Öberefahre» werden bereits seit Urzeiten ganz nach den alten Werten gepflegt. Deshalb trägt der vollfette Halbhartkäse aus der Urnäscher Käserei den Namen Urnäscher Brauchtumskäse.

Mitten durchs Dorf wie die Westtangente (!) mitten durch Zürich: Vom Dorfplatz führt

Obwohl diese Bräuche, wie wir wissen, nicht ganz so alt sind, wie sie da gemacht werden, frage ich mich, wie und warum die Bräuche im Vorderland so sang- und klanglos verschwanden oder gar nie da waren. Und ob ich wohl auch mitgemacht hätte, wenn. Die Frage stellte sich nie. Das höchste der Gefühle waren Kinderfasnacht, Jugendriege und 1. August-Funken. Ansonsten habe ich bis auf die Zwangskonfirmation – der Pfarrer drohte mir x-mal mit Nichtkonfirmierung, keine Ahnung, warum – keine Erinnerung an irgendwelches ritualisiertes Brauchtum. Ein «Dekoriert»-Schild führt mir meine lange Zeit im Thurgau vor Augen, wo die Fasnacht sich vor allem in dekorierten Landspünten abspielte. In Zürich gibts sowas nicht. Ob das in Mostindien heute, im 0.5-Promille-Zeitalter, auch noch so ist? – Keine Ahnung.

Die Beizenfasnacht erlebte ich vor allem im Thurgau mit; in Zürich gibts sowas nicht.

Die flächengrösste Ausserrhoder Gemeinde Urnäsch – benannt nach dem Fluss Urnäsch – mit rund 2300 Einwohnern war mir oft Ausgangspunkt für Wanderungen oder Durchfahrtsort, längere Aufenthalte gabs höchstens beim Warten auf Postauto oder Bahn. Beim Betrachten des geschlossenen Bahnhofkiosks fällt mir ein, dass ich hier im Primarschulalter einmal ein tolles Donald Duck-Büchlein kaufen durfte, obwohl das – wie alle Comics – von den Eltern (und den damals noch meist männlichen Lehrern) als verdummende, finanziell nicht zu unterstützende Schundliteratur verunglimpft wurde. Und die damals noch «neue», ungewohnte, nur in wenigen Sendungen zu hörende, noch weniger zu sehende Rock- und Popmusik schimpfte der Vater despektierlich und pauschal «Negermusig», ohne dass jemand ihn wegen N-Wort-Rassismus angezeigt hätte – wohlgemerkt: dazu gehörten die bleichgesichtigen Beatles ebenso wie Stones, CCR und Led Zeppelin. Es galt das absolut humorlose und haarsträubende Dogma der schizophrenen Unterscheidung zwischen U- (für Unterhaltung) und E- (Ernste) Kultur.

Herr Alder, was ist Volksmusik heute?

«Musik, für die man kein Diplom braucht, um sie spielen zu können. Sie muss einfach und verständlich sein, nicht zu kopflastig. Das heisst aber nicht, dass Volksmusik nicht von hoher Qualität sein muss. Einfach bedeutet nicht schlecht gespielt.»

Aus einem Interview (NZZ, 10.2.23) mit Noldi Alder, 69, der der Urnäscher Musikerfamilie Alder entstammt, gehört heute zu den wichtigsten Brückenbauern zwischen Tradition und Aufbruch.

Darf man heute noch «Hudigääggeler» sagen, ohne in einen – uf guet Tüütsch gseit!Scheissesturm zu geraten? Laut Wikipedia ist das der despektierliche Mundartausdruck für Ländlermusik. Meine Mutter liess Hudigäggeler tagein, tagaus in jedem Zimmer und in der Küche auf einem andern Gerät laufen; oft auch unterschiedlichen Sendern – meistens DRS1, für den früheren Jugendsender DRS3 war die Zeit noch längst nicht reif. Es gab ja damals noch keine Mehrraum-Soundsysteme und kein Streamen, geschweige denn Napflixen. Alles war analog. Tragbare Kassettengeräte, die schlechter klangen als jedes Handy, vermittelten Hochgefühle. Und am Sonntag machte der Vater im Ledersessel den Karajan und rockte Mozart und Beethoven. Auch zackige Marschmusik fegte mir jeweils das Blech weg. Aber egal, ich habe überlebt. Aber ich hätte Erfinder des cervelaprominenten Dschungelcamp-Claims werden können: Hilfe, ich bin der Fredy (oder Fredi) – holt mich hier raus!

Intermezzo: Äxgüsi, bin gleich zurück!

Standesgemässe WC-Beschilderung im Land der Appenzeller Gürtel.

Hät ase guet tue – wo sömme gse?

Für mich aber kam die Rock- und Popmusik als Befreiung von vielen Zwängen. Es war Freiheitsmusik, die der steifen Betonförmlichkeit, die mir oft scheinheilig vorkam, den Kampf ansagte. Lange Haare und Schlaghosen. Weg mit steifen Kragen, Bügelfalten und Krawatten. Hemd raus aus den Hosen. Jeans, die man trug, bis sie Löcher hatten, aber diese Löcher waren die eigenen Löcher, die persönlichen Löcher. Und wehe, wenn die Mutter wieder Falten reingebügelt hatte! Heute sind Krawatten, Bügelfalten und so weiter noch da und man kauft teure, anonyme Löcher mit etwas Jeans drum rum, ohne dass es jemanden kratzt. Gilt als sexy wie Turnschuhe in allen Kolorierungen, die jetzt Sneakers heissen, und coole Trainer aus Synthetikfasern, die als Streetwear ihren Mikroplastik in die Welt tragen. Auch Anzüge und Sneakers sind längst gesellschaftsfähig.

Alles hat sich verändert. Pop- und Rockmusik kann man studieren wie Kunst, die auch fast nur noch akademisch und wohlsubventioniert existiert. Daraus schwangen sich diverse wohlsaturierte (Ausnahmen bestätigen die Regel) Künstlerkurator:innen und Galerist:innen zu eventmanagenden Kunstpäpst:innen auf, die den abgehobenen, pseudo-demokratisierten Kunstkanon prägen. Immer weniger spielen unberechenbare Autodidakten eine Rolle. Man macht auf VIP-Hochglanzprospekt und vergisst, dass das Leben eben keiner ist. Musikstile, Bands, DJs schossen wie Pilze aus dem Boden. Nachdem ich die Schlammschlachten der ersten drei Open Airs St. Gallen mitgemacht habe, gehört das Festival wie so viele andere inzwischen zu CTS Eventim, einem milliardenschweren Ticket- und Live Entertainment-Konzern. Dazu gibts lesenswerte Bücher von Konzertveranstalter Berthold Seliger (Klassikkampf; Vom Imperiengeschäft: Wie Grosskonzerne die kulturelle Vielfalt zerstören), die einen nicht nur ordentlich staunen lassen, sondern auch zum Nachdenken bringen.

Schlaghosen kommen und gehen. Moden kommen und gehen. Und bleiben. Alles Neue war schon mal da, ein bitzeli anders vielleicht, aber gabs schon mal. Letzthin habe ich De Chaschperli isch wieder da auf Speedtechno gehört. Potz Tüufel und Zipfelchappe, welch ein Graus! Weltmusik aus allen Regionen der Welt streamt in unseren Ohren. Dazu gehört schon längst auch die Streichmusik Alder, der bei meinem Besuch im Brauchtummuseum eine Sonderausstellung gewidmet ist. Auch da hat sich viel verändert, seit sie beispielsweise 1898 bei der Eröffnung des Landesmuseums in Zürich aufgespielt haben. Was ich übrigens nicht wusste. Dass sie als Popstars nicht nur am St. Galler Openair und im Hallenstadion auftraten, sondern auch mit dem Rapper Bligg den Titel «Volksmusigg» in die Hitparade bringen, ist mir aber noch präsent.

Popstars der Volksmusik und ihre Trophäen.

Im NZZ magazin (10.2.23) erklärt Noldi Alder – der mit 40 das Konservatorium abschloss, bei den Alderbuebe aufhörte und die Tracht nicht mehr trug, weil man unter anderem sagte, er könne doch in dieser nicht Tango spielen – seinen Ausstieg:

«Weil ich meinen Kollegen meine Furzideen nicht länger zumuten wollte. Das, was mich interessierte, konnte ich mit den andern nicht spielen. Improvisation? <Das geht doch nicht!> Ein Stück von Pablo de Sarasate? <Um Himmels willen!> Wenn ich harmonisch etwas ausprobieren wollte, einen Es-Dur- statt immer einen G-Dur-Akkord, dann hiess es: <Jetz hör mer emol uuf mit dine neue Harmonie!>

Die Gedanken sind frei, lächelt auch der Panda, den man uns aufbindet.

Seltsamerweise wird bei uns plötzlich wieder – Stichwort: woke, politische korrekt, cancel culture – an unzähligen Sprach- und Bildverboten gearbeitet, obwohl Meinungsfreiheit eigentlich Kern und Fundament der rondom vielstrapazierten Freiheitsliebe bildet. Freiheit – ein Wort mit unendlich vielen Bedeutungen. Die Definition des bulgarischen Politologen Ivan Krastev kann ich unterschreiben: «Ich weiss besser als jeder ander, wer ich bin, was ich zu tun habe.» Was soviel bedeutet wie: Wer andere Ansichten hat, ist interessant, nicht fehlgeleitet. Und wer anderen seine Ansichten aufdrücken, sie zu ihrem Glück zwingen will, pflegt alles andere als Freiheit.

Anderswo in der Welt werden sogar herzige Pandabildli zensiert, weil der «Überragende Führer» nicht länger duldet, mit dem nur in Leihgabe an wohlgesinnte Staaten vergebenen, sexfaulen und schnäder-, aber vielfrässigen schwarz-weissen Lächelbambusvegetarierbär (als Veganer müsste er den Bambus zuerst waschen, damit er nicht aus Versehen irgendein Insekt vertilgt) verglichen zu werden. Auf zeit.de gibts tolle Bezahlartikel zu dem Thema Panda. Und aktuelle Panda-News hier auf wwf.de.

Es sei hier lauthals verschwiegen, dass ich in der von mir ungeliebten Pfadi Rorschach – nicht mal eine Bubenpfadi gabs in Heiden – wegen meines Lachens Panda getauft wurde; einmal drin, durfte ich auf Elternbefehl nicht mehr raus. Weil ich immer alles anfangen und wieder aufhören würde, die mürbe Begründung. Tja, dann hing ich halt tagelang schwänzend in Rorschach herum, bevor ich in der Häädler Zahnradbahn wieder den Berg hochkeuchte. Wie arrangiert sich eigentlich der WWF mit dem heutigen China und dessen Panda-Diplomatie bezüglich ihres weltbekannten Panda-Logos, dessen Vorbild 1961 die 1958 von Peking nach London übersiedelte Panda-Dame Chi Chi bildete?

Das WWF-Logo von der ersten Skizze nach Chi Chi bis heute.

So, Schluss mit Panda! Zurück zur Freiheit! Und siehe: Auf Wikipedia entdecke ich, dass auch das eingangs zitierte Volkslied Die Gedanken sind frei sich über die Zeit gewandelt hat. Ursprüngliche Fassungen entstanden vor 1800, die erste Vorfassung gar im 13. Jahrhundert; die heutige geht auf die 1842 durch August Heinrich Hoffmann von Fallersleben geschaffene Version zurück. Clemens Brentano kreierte für die von ihm und Achim von Arnim zusammengestellte Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1805-08) gar einen Dialog zwischen einem Gefangenen und einem Mädchen (Lied des Verfolgten im Turm. Nach Schweizerliedern.), das er aus einer alten Liedfassung (Beleget den Fuss mit Banden) und Flugblättern aus der Schweiz mitgebracht habe. Diese Fassung wiederum verwendete Gustav Mahler 1898 für seine Neuvertonung von Liedern aus Des Knaben Wunderhorn.

Zur Eröffnung des Berliner Filmfestivals, die bekanntlich Goldene und Silberne Bären (nein, nicht Pandas! Ich sagte doch Schluss mit Panda!) vergibt, bringt die NZZ (17.2.23) den heutigen Wahn der (Selbstkasteiungs-)Zensur auf den Punkt: Wenn man fürchtet, dass allein schon die Darstellung von Diskriminierung als Diskriminierung empfunden werden könnte, bleibt nichts mehr zu erzählen. Wir Menschen aber sind Geschichtentiere, was schon der grösste Bestseller aller Zeiten, die Bibel in all ihren Ausprägungen, mit all ihren Widersprüchlichkeiten, beweist.

Sich wandelnde Geschichte und Geschichten in allen Formen und Medien bilden nicht nur unsere Weltvorstellungen, unsere Welt-Bilder, sondern sind auch Herz & Lebenshauch der Seele, die laut einem Filmtitel, der auf ein anfangs 20. Jahrhundert von MacDougall an 6 Patienten durchgeführtes Experiment anspielt, durchschnittlich 21 Gramm wiegen soll. (MacDougall ermittelte die Gewichtsdifferenz von gerade mal sechs Patienten vor und nach ihrem Ableben und kam auf Werte zwischen 8 und 35 Gramm, Durchschnittswert: 21 Gramm). Und wenn Roman Signer mit einem ihm gefallenden Philosophen sagt, wir seien Zeit auf zwei Beinen, so füge ich eigenmächtig hinzu: Wir sind Geschichten auf zwei Beinen.

Warum hatte ich Narr nur gemeint, Rhode komme von Bäume roden?

Erinnerung (wie Glauben und Wissen) ist eine trügerische Geschichte. Hirnforscher sagen inzwischen, dass wir jede aufgerufene Erinnerung durch das Aufrufen verändern würden. Das heisst also, dass auf Erinnerungen nur bedingt verlass ist, da wir manchmal zu wissen glauben, etwas sei so und so gewesen, obwohl es sich völlig anders abgespielt hat. Es gibt auch funktionierende Versuche mit eingepflanzten Erinnerungen an Begebenheiten, die nie stattgefunden haben.

Ich hätte gewettet, in der Schule gelernt zu haben, dass die Bezeichnung der beiden Rhoden von der Rodung der früher mit Urwald bewachsenen Appenzeller Hügel komme. Wobei Gallus der erste war, der beim heutigen Weltkulturerbe-Kloster mit der eremitischen Waldvermöbelung angefangen hatte. Von diversen, damals noch dort lebenden carnivoren Wappenbären bedroht, wohlgemerkt. Aber nein, so war es anscheinend überhaupt nicht. Und obwohl – da bin ich mir sicher, dass – man uns den Gallus faktensicher als irischen Mönch verkaufte, war er möglicherweise Vogesen-Elsässer oder gar Arboner.

Auch das vermeintlich gewusste, schulisch gelernte Faktenwissen stimmt also – zumindest in diesem Falle – nicht die Bohne und mutiert mit neuen Erkenntnissen gar zum Irrtum. Wie soll sich da eine:r zurechtfinden, in dem Chaos? Soll ich nun glauben, was die Wissenschaft oder der Lehrer mir als Fakten verklickern will? Dazu schüttle ich spontan einen kulturell angeeigneten Satz aus dem Ärmel: Ich weiss, dass ich nichts weiss. In solcher Widersprüchlichkeit kann ich leben und mir eine mehr oder weniger unabhängige Meinung bilden. Aber wie ist das nun mit dem Rhoden oder Roden?

Im Historischen Lexikon der Schweiz steht nichts von Bäume abholzen, um das Land urbar zu machen: Im Mittelalter entstanden vor allem im süd- und ostschweizerischen Raum als Rhoden bezeichnete Körperschaften. Der Begriff Rhoden entstammt dem romanischen Sprachbereich (lateinisch rota = Rad, Reihenfolge, Turnus) und bezeichnet vielfältige Formen von Kehrordnungen, nach denen die den Rhoden angehörenden Einzelpersonen reihum Leistungen erbrachten oder an Nutzungsrechten teilhatten. Als Rhoden organisiert waren insbesondere Transport- und Säumergenossenschaften sowie Allmend-, Alp- und Waldkorporationen. Im Appenzellerland gehen die zur Sicherung von Militär- und Steuerleistungen an die Abtei St. Gallen eingeführten Rhoden auf das 13. Jahrhundert zurück. Die Personalverbände erlangten bald genossenschaftliche Selbstverwaltung. Sie wurden durch Rhodsmeister geführt und wählten später an jährlichen Rhodsversammlungen Hauptleute und Räte, welche die je sechs äusseren und inneren Rhoden in den Behörden des Landes Appenzell vertraten.

Nichts ist in Stein gemeisselt. Das stimmt und stimmt so auch wieder nicht.

Ich verrate euch als Anonymus bei dieser Gelegenheit auch ein offenes Geheimnis aus meiner Vergangenheit, von dem fast niemand weiss: Am Unesco-Weltkulturerbe, genauer: an der zur Stiftskirche gerichteten Fassade des Regierungsgebäudes gibt es in rund 15 Metern Höhe sechs Abschlussreliefs (Kapitelle) der Lisenen aus – glaubs – fünf (oder sechs) Teilstücken, die ich und mein verstorbener Freund Thomas Rüesch gehauen haben. Und der Denkmalschützer sagte zum ersten, der auch als Muster für die restlichen Stücke galt: «Schön habt ihr das gemacht. Richtig wild. So, wie die ungelernten Steinbruchleute sie damals gehauen haben.»

Auf Augenhöhe riesig, in 15 Metern Höhe ein Akzent: Die 6 dunkelgrau gestrichenen Scheinkapitelle auf den Lisenen des Regierungsgebäudes St. Gallen (4 frontal links und rechts des Durchgangs plus je eins um die Ecken).

Dazu muss man wissen, dass man den stark versandeten Originalstücken nur noch ansah, dass sie teilweise recht krumm und spontan gehauen sein mussten; die richtigen Formen waren nur noch zu erahnen. Wir gingen also ebenso vor wie die ungelernten Steinhauer damals und hauten die riesigen Voluten direkt und wild aus dem Sandstein, ohne sie zu sehr zu symmetrieren. Natürlich verwendeten wir Kompressor und Eisen mit Widia-Einsätzen (abgeleitet von Wie Diamant; Hartmetalleinsatz) statt der ursprünglichen selbst geschmiedeten Handeisen der Alten. Mit dem Risiko, dass ein anderer Denkmalpfleger vielleicht eine andere Sicht auf die Sache gehabt hätte und wir die Steine auf unsere Kosten – wir hatten wirklich eher unter null Stutz – neu hätten machen müssen. Und im Moment diese Aufschreibens fällt mir auf, dass im Wort bewahren auch wahr steckt, also Wahrheit und Wahrhaftigkeit.

Nun denn, zu den unterschiedlichen Vorstellungen der Denkmalpflege hat unser Spazierwissenschaftler dezidierte Ansichten, zum Bleistift:

Die Frage lautet: Werden wird die Kunst immer und ewig durch die im 19. Jahrhundert geschaffene Stilbrille anschauen? Es ist uns selbstverständlich, wir können einen Dom nicht anders verstehen, als indem wir uns sagen, es ist ein gotischer Dom, ein frühgotischer, ein spätgotischer, und meinen, nach der Gotik komme die Renaissance und nach der Renaissance der Barock. In der Denkmalpflege heisst das, immer das Stilideal als Hintergrund zu haben. Dazu noch eine Geschichte aus Basel: In der Aeschenvorstadt steht ein Haus, der sogenannte Raben. Er wurde von der ersten Basler Familie gebaut, die eine eigene Bank hatte, der Familie Ehinger. Als der Raben renoviert wurde, da sagte der Denkmalpfleger den Besitzern, eigentlich hat ein solches Palais, wie Ihr es habt, ein Sockelgeschoss, das sich vom übrigen Bau abhebt, und er hat ernsthaft vorgeschlagen, dass man im Parterre nicht mehr verputzt, sondern Rustikaquader vorblenden soll. Es war eine Besonderheit von Basel, dass die Fabrikantengeschlechter selber Zweige ausbildeten, die die Bankgeschäfte machten. Diese Banquiers lebten wir Herrschaften, aber sie konnten ja die Kunden nicht ins erste Geschoss nehmen. Also musste das Parterregeschoss wie ein Wohngeschoss ausgebildet sein. Und das ist eben gegen das Stilideal. Ist nicht eine solche Zweideutigkeit unglaublich interessant?

Lucius Burckhardt: Wer plant die Planung? Architektur, Politik, Mensch. Martin Schmitz Verlag Berlin 2014

Das Brauchtumsmuseum befindet sich an der verheissungsvollen Adresse Dorfplatz 6.

Wenn man Strasse und Parkspickel dazu zählt, ergibt sich ein wohlproportionierte Dorfplatz.
Auto-vermöbelt: Ohne Autos geht gar nichts. Aber muss der Dorfplatz wirklich auch Parkplatz sein?

Suchen wir jetzt also diesen verheissungsvollen Dorfplatz auf, der vielerorts geopfert wurde und hier noch so heisst. Aber oha, der erste Anblick ist vermöbelt: Die Grossbaustelle von Gasthaus und Metzgerei Taube verstellt das big picture. Mit Stapler entladen Arbeiter grad einen Lastwagen voller neuer Fenster. Das Leben ist kein Hochglanzprospekt, sag ich doch. Aber was läuft denn da mit der Taube im fast 400jährigen Haus? Die Appenzeller Zeitung schreibt: Fränzi und Peter Signer-Frick, die seit 2005 das Gasthaus und die Metzgerei Ochsen in Schönengrund führen, haben die Liegenschaft gekauft und wollen in Urnäsch einen zusätzlichen Standort eröffnen. Und weiss, dass dies die letzte Metzgerei im Dorf sei, was von der Taube-Fleisch & Wurst-Tafel mit Kreide umgehend Lügen gestraft wird: METZGEREI IM LÖWEN OFFEN. Aha, da wiederum bieten die neuen Inhaber ihre Produkte an. Und später wird die Taube dann «Dorfplatz – Metzgerei & Gasthaus» heissen. Jetzt, kapier ich.

Das Neue kommt ins Alte: Infotafel an der Baustelle der «Taube».

Aus Platzgründen hat der Dorfplatz nicht so richtig Platz, um sich als einheitlicher Platz zu entfalten. Zwei Drittel gehören den Autos, als Parkplatz und als Durchfahrtsstrasse. Die Kirche vis-à-vis und das Rathaus bleiben im Dorf, wirken aber vom Dorfplatz abgeschnitten. Im Ganzen ist es eigentlich ein wohlproportionierter, richtiger Dorfplatz, wo die Gemeinde sich trifft, wo früher wahrscheinlich auch der Markt war. In heutiger Hybrid-Aufmachung schrammt die Herisauerstrasse knapp zwischen Metzgerei und Kirche vorbei, wird nur im Sperrfall brauchbarer Teil des Dorfplatzes, zirkelt sich an dessen Ende knapp zwischen den Häusern durch, um als Schwägalpstrasse aus Urnäsch herauszuführen. Wie so viele Strassen, hat auch diese wohl die Wandlung vom Kutschenweg zur geteerten Autostrasse durchgemacht. Und wie wir wissen, sind die Autos statt kleiner immer dicker, grösser und mehr geworden – und will man nicht fahren, müssen sie ja irgendwo stehen.

Alte Ansicht des Dorfplatzes. Trotz Strasse gehört die Kirche noch zum Platz, während sie heute abgetrennt wirkt.

Im Moment ist also nichts mit der vielfotografierten, mit Blumen garnierten Idylle an den malerischen Fassaden der bunten, wunderbar in Stand gesetzten Häuserreihe, in der auch Touristeninfo und Brauchtumsmuseum Urnäsch samt Bistro untergebracht sind. Keine gemütlichen Gartenbeizli, in und um die sich Einheimische und Tourist:innen tummeln. Natürlich sieht das in der warmen Saison ganz anders aus, wenn Touristen- und Wanderlustige den Ort durchströmen. Nebst der lebendigen Brauchtumspflege ist das wohl mit ein Grund, dass die Leser:innen der Schweizer Illustrierte Urnäsch zum Schweizer Dorf des Jahres 2022 gewählt haben.

Das Foto zur Pressemitteilung von Ringier: Urnäsch – Schweizer Dorf des Jahres 2022. Interessant ist der Vergleich mit der gemalten Ansicht von Urnäsch von Jakob Vetter im Museum (s. weiter unten).

Gerhart Polt, Bayerns Simon Enzler (hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag «D’Stääziit isch o nöd z End gange os Mangel a Stää.»), liefert den träfen Schlusspunkt zu diesem Abschnitt (NZZ, 3.3.23): Gemütlichkeit kann einschläfernd sein oder auch hinterhältig. Das interessiert mich. Was heute fehlt, sind ihre analogen Formen. Freundschaftliche Auseinandersetzungen oder dass man sich am Wirtshaustisch beim Bier schweigend ganze Geschichten erzählt. Es gibt auch die kreativen Gemütlichkeitstypen nicht mehr. Die Urbanisierung ist tief in die Provinz vorgedrungen. Die Gesellschaft pendelt in die Städte. Es gibt keine Hockerten mehr, wie wir in Bayern sagen. Keine, die immer da sind. Das Altersheim ist heute der Ort der Hockerten. Die Oma ist stabil im Altersheim, aber sonst lebt jeder woanders. Die Familienkerne sind sortiert. Wir sind eine neue Gesellschaft. Und man streitet ganz anders.

Die reich verzierten, superschön herausgeputzten und vergoldeten Wirtshausschilder zeugen noch von Zeiten, als Gaststube und Stammtisch für das Dorfleben eine wichtigere Rolle spielten als heute.

A propos trefflich streiten: Als ich mich einmal über die Strasse mockierte, die die Werdenberger Idylle mit Seelein, Schloss und mittelalterlichen Häusern (zer)stört, beendete die alte Dame, die seit Jahrzehnten im wieder aufgebauten, malerischen Altstädtchen wohnt, das Gespräch trocken und diskussionslos mit der Bemerkung, dass sie ohne diese Strasse verloren wäre. Tja, stimmt wohl; aber war und ist die Strassenführung wirklich alternativlos? Tatsache bleibt, dass Werdenbergs idyllische Einheit von der verkehrsreichen Strasse stark beeinträchtigt wird.

Aus: Lucius Burckhardt: Design ist unsichtbar.

Es isch, wiäs isch! Also nichts wie rein ins Museum, das bescheidene acht Stutz Eintritt kostet, viel grösser ist, als ich dachte, und der Blick hinter die Fassade ist das Eintrittsgeld mehr als wert.

Der Eingang zur Tourist Info und zum Appenzeller Brauchtumsmuseum Urnäsch.

Dass Schönheit im Kopf entsteht und alles andere als klare Regeln hat, zeigt sich auch am heutigen Kernstück des Brauchtumsmuseums: Ein Bär ist hier, was die Mona Lisa für den Louvre ist. Aber bis wir dahin vorstossen, bitte ich um etwas Geduld. Der Rundgang durch die drei aneinander gebauten Häuser, die das 1976 eröffnete Museum beherbergen, beginnt im Erdgeschoss und führt über viele Treppen und Winkel in Räume aus unterschiedlichen Epochen. Das betrifft Ausstellungsräume ebenso wie die ausgestellten Artefakte.

Ein Haus voller Geschichte und Geschichten; im Hintergrund erkennt man Bilder zur Sonderausstellung «Malwelten» von Walter Irniger.

Es gibt verblüffend viel zu sehen. Aktuell umfasse die Sammlung rund 8’000 Objekte. Ich hatte ein kleines Museum erwartet. Ein Museümchen. Vielfalt und Grösse, einzigartige Objekte, sowie Liebenswürdigkeit der Arrangements wirken äusserst lebendig und inspirierend, alles andere verstaubt. (Hier gehts zum offiziellen Museums-Rundgang. Der Rundgang beginnt im Parterre mit wunderbar alten Chlauskostümen (Groscht) an Puppen sowie schöne Fotografien von alten Schuppeln. Auch Vitrinen mit Utensilien zur Fertigung solcher Groscht; mir gefällt dabei die Heissleimpistole.

Naturchlausstillleben mit Heissleimpistole.

Man kann gut erkennen, wie die Gestaltungsweise immer mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten korrespondiert. So dominierte bei den frühen Schönen noch klar der Weihnachtsschmuck. Die fortschrittliche Zukunft manifestierte sich in Hauben mit einer neuen Brücke oder dem damals modernen Zeppelin, bevor er in Flammen aufging. Die alten Wüeschte wirken erschreckender als die heutigen. Und natürlich sind die heute verwendeten Heissleimpistolen erst seit den 1970ern breitflächtig im Verkauf.

Der Zeppelin auf dem Kopf: Die ersten Hauben lehnen sich hauptsächlich an Weihnachtsschmuck an, aber auch Erfindungen und neue Bauwerke wie Brücken werden nachgebaut.

Das geschichtsträchtige Haus erzählt unzählige Geschichten; es spricht mit uns. Von heute. Von morgen. Von gestern. Vom Moment. Von übermorgen. Von vorvorgestern. Von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Vom Verschollenen und vom Vergessenen. Von Ahnen und Unbewusstem. Vom richtigen Glauben und vom falschen. Aber Glauben ist Glauben und nicht Wissen und auch beim Wissen ist viel Aberglauben – was ist demnach richtig, was falsch?

Details und Gesamtbild tragen im Zusammenspiel und isoliert unzählige Informationen aus unterschiedlichen Perioden, Epochen, Zeitaltern in sich. Alles dreht sich ebenso ums Hier und Jetzt als auch um individuelle wie kollektive Sichten auf Vergangenheit und Zukunft. Und selbst in dieser musealen Welt der angehaltenen Zeit hält die Ewigkeit nicht für immer und ewig. Unsere Vergänglichkeit wird spürbar, fassbar. Sogar der zeitgenössische Feuerlöscher an der alten Holzwand spricht Bände. (Nein, über die forever chemicals darin und in meinem Körper, lasse ich mich jetzt nicht aus.) Oder die Steckdose in der Werkstatt aus vorelektrischen Zeiten. Schon die schrägen und verwinkelten Räume, Treppen und Gänge des alten Holzhauses sind einen Besuch wert. Ein Grund, sich vor Ort selbst eine Meinung zu bilden.

Aber natürlich gibts ein Problem mit der Barrierefreiheit, die auch ein Stockwerke überbrückender Lift nicht lösen kann: Die teilweise sehr hohen Schwellen zwischen den schönen alten Holzräumen sind mit Rollstuhl nicht zu bewältigen. Dagegen ist die eigenverantwortliche Gefahr, die Birne an den tiefgelegten Türstürzen anzuschlagen, charmant mit Glöckchen und Warnungen gekennzeichnet. Um quasi zu sagen: Gib obacht, sösch schällets! Solangs nume schället, häsch Glöggli gha. Ein etwa eins-achtzig grosser Freund erzählte einmal, dass er in Wolfhalden jahrelang immer wieder im Haus der Schwiegereltern weilte und zurück in «normalhohen» Räumen, ein-zwei Tage immer noch gefühlt sich bückend-zusammengezogen herumlief.

Von authentisch gestalteten, mit Informationen und Fotos ergänzten Werkstätten, Wohn- und anderen Räumen über die verschiedenen, heute noch gepflegten Bräuche bis zu Volkskunst finden sich bis unters Dach herausragende Sammlungsstücke in diesem abwechslungsreichen Museum. Alt und neu begegnen sich gegenseitig befruchtend, ungezwungen, einleuchtend und leichtfüssig. Auch erklären viele klassische Beschriftungstafeln in gut lesbaren Längen erhellende Geschichten zu Menschen und Ausstellungsobjekten. Man kann übrigens auch ausprobieren – beispielsweise das Schellen. Oder Kontrabass und Hackbrett in der Alder-Sonderausstellung.

Und endlich läuft mir auch mal ein – etwas lädierter – Namensvetter unseres berühmten Weltstars Quöllbisch, ein Bisch für Baptist, live über den Weg – ein Nagel hat ihn an den Kopf getroffen.

Das Fotografieren ist – ähnlich wie beim Krippenmuseum in Stein am Rhein – schwer. Irgendetwas ist immer schräger oder verspiegelter als gewünscht, oft nicht der gewünschte Abstand möglich. Im positiven Sinn vermöbelt, sage ich aufmöbelnd zu mir. Logischerweise ist – aufgrund der dünnen Personaldecke verständlich; keine Wachpersonen, der Rucksack wird hinter dem Empfang deponiert; einfach, freundlich, persönlich – diebstahlsicher hinter Glas. Die Spiegelungen trüben die Klarsicht teilweise schon, wenn einen ein bestimmtes Detail interessiert. Es isch, wies isch.

Intermezzo: Der Mona Lisa-Räuber war ein Glaser

Aber es ist längst nicht so schlimm, wie bei der Mona Lisa (gemalt 1503-1506) im Louvre, die hinter Panzerglas auch wegen der sich vorbeiwälzenden Menschenmassen kaum zu betrachten ist. Ein schlechter Witz, eigentlich. Auf jedem Poster ist sie besser zu betrachten. Ironie der Geschichte des gerade mal 76,8 x 53 Zentimeter kleinen Gemäldes auf Pappelholz hinter dem Panzerglas: Der Räuber von 1911 hatte dort als Glaser gearbeitet.

Noch vor den Selfiesticks und der Invasion der Smartphone-Leuchtbrettchen: Lang, lang ists her, als ich im Louvre versuchte, die Mona Lisa zu sehen.

Der italienische Handwerker Vincenzo Peruggia (1881-1925), der von Oktober 1910 – Januar 1911 als Glaser im Louvre gearbeitet hatte, hievte La Gioconda 1911 mit dem legendären Raub der Mona Lisa von der geheimnisvoll lächelnden Leonardo-Renaissance-Kunstgenie-Meisterwerk-Italo-Nationalheiligtum-Berühmtheit in die Hall of Fame der totalen Mega-Pop-Kult-Everybody’s Darling-VIP-Welt-Superstars. Und das war gar nicht so schwer. Am Vortag der Tat liess er sich über Nacht in einem der zahlreichen Wandschränke im Louvre einschliessen, in denen die Kopisten Staffeleien und Leinwände aufbewahrten.

Das gestohlene Lächeln der Mona Lisa vor dem grossen Blitzlichtgewitter.

Nachdem die Putzequipe durch war, hängte er das Bild ab. Leider passte der Schlüssel zum Treppenhaus nicht, durch das er aus dem Louvre kommen wollte. Zum Glück für ihn öffnete ein Klempner des Museums ihm mit einer Zange die Tür. Peruggia konnte entkommen, aber sein Retter hatte ihn als einziger gesehen. Es war Montag, Ruhetag. Bis heute gibt der Raub Rätsel auf und zeitigte seltsame Blüten: Weil der surrealistische Dichter Guillaume Apollinaire einen Mitarbeiter beschäftigte, der auch mit gestohlener Kunst handelte und dem Pablo Picasso zwei im Louvre gestohlene Statuen abgekauft hatte, musste der Dichter einige Tage im Gefängnis verbringen, während Picasso nur verhört wurde. Peruggia wurde 1913 verhaftet, nachdem er sein Diebesgut einem Kunsthändler unter dem Namen «Leonard» für eine halbe Million Lire angeboten hatte. Bis heute ist vieles an dem Raub so unerklärlich und geheimnisvoll wie das Lächeln der Protagonistin.

Als ich vor Jahren – vor Smartphone- und Selfie-Pandemie – erstmals im Louvre war, hing sie – so es denn die echte war – ungeniessbar in Blitzlichtgewittern (s. Video): Die sich an der Gioconda vorbeiwälzenden Massen wollten festhalten, dass sie die weltberühmte Mona Lisa live gesehen haben und – zack-zack! – weiterseckeln zum Eiffelturm oder Matterhorn. Dort schnell klick-klick! und ab zum nächsten Muss-man-gesehen-haben. Würde die echte Mona Lisa wirklich solchem Dauergeblitze ausgesetzt? – Aha, auch das hat sich geändert. Fotografieren darf man noch, aber: Die Verwendung von Selfie-Sticks, Blitzlicht oder Beleuchtung ist jedoch nicht erlaubt. NO FLASH, PLEASE!

Back to the roots: Die Holzkuhherde an der Wand ist die artenreichste im Appenzellerland

Mein persönliches Highlight: 148 aus 143 (richtig wäre: 142 plus eine aus Speckstein) verschiedenen Hölzern von Heiri Müller.

Mein ganz persönliches Highlight – nebst dem offiziellen des Museums – befindet sich auch in einer Glasvitrine: Die 148 geschnitzten Kühe von Heinrich Müller. Aus 143 Hölzern aus aller Welt, heisst es da. Von Freunden zugeschickt und von ihm zur Kuh geschnitzt. Die 148 Kühe sind klar lackiert, nur eine Kuhglocke ist bunt bemalt.

No comment. ;-))

Aber, die graue da, hä?! Graues Holz? Ah, Speckstein! Das schwarze Schaf aus dem Titel dieses Beitrags. Lustig. Speckstein – ebenso Alabaster – lässt sich fast wie Holz beschnitzen, gibt aber eine ordliche Sauerei. Der speckige Staub verteilt sich wirklich bis in die hinterletzte Ritze und hat mir in der Schulwerkstatt – trotz mühseligem Putzen – schon ziemlich viel Ärger eingebracht. Die unterschiedlichen Maserungen der Holzkühe lassen auf sehr unterschiedliche Holzhärten schliessen. Lustig auch, wie Müller alle Details wunderbar ausarbeitet, aber die Kuhfüdlis einfach als Blockflächen belässt, ohne Vertiefungen und Ausformungen.

Chüelischnitzer Müllers vo de Tell, Urnäsch-

Es sind auch immer wieder faszinierende Geschichten, wie aus den oft armen, auf Zusatz- oder überhaupt Verdienst angewiesenen Menschen Künstler:innen wurden. Und welche Technik sie sich aneigneten, welchen Stil sie pflegten, welche Details ihre Kunst ausmachen. So habe der Bauer Heiri Müller die erste Kuh auf Wunsch seiner Frau Anni geschnitzt. Sie wisse, dass er das könne. Aber bemalen werde er sie nicht, gab er zur Antwort. Das übernehme sie dann schon. Daraus entwickelte sich ein harmonisches Chüelischnitzerteamwork zweier Eheleute. Zum bevorzugten Schnitzholz wurde die Pappel. Gut zu erkennen auch, dass echte Handarbeit der mehr oder weniger charakterfreien Maschinenkuh immer überlegen ist. Auch hier schlägt das Unakademische, entwaffnend Direkte authentischer Art Brut jede Form der vornehmlich Reichen zugänglichen High Society-Kunst. Gerne würde ich im Museums-Shop auch qualitativ zumindest ähnliche Handarbeiten vorfinden.

It’s a man’s, man’s world: Zwei Frauen, die sich unter vorwiegend Männern durchgesetzt haben.

Babeli Giezendanners Bilder sind heute sehr begehrt.

Eine der wenigen, malerisch erstaunlich komplexen Frauen im Ensemble der Männerdomäne Appenzeller Sennenmalerei: Babeli Giezendanner (1831-1905), eigentlich Anna Barbara Aemisegger-Giezendanner aus Hemberg. Die Lehrerstochter verlor früh ihren Mann und musste sich und ihre Kinder alleine durchbringen. Mit der Malerei besserte sie ihren bescheidenen Weberinnenlohn auf. Ihr Stil fällt auf durch feine Farbgebungen, sichere Linienführung, teilweise überraschende Detailsorgfalt und komplexe Kompositionen.

Gret Zellweger hat auch Etiketten für Appenzeller Bier gestaltet.

Eine weitere Malerin aus der Gegenwart – sie hat schon Appenzeller Bier-Etiketten gestaltet – entdecke ich über den Vitrinen mit Chläusen: Gret Zellweger (Hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag Gret Zellweger – quöllfrische Gegenwarts-Traditions-Kunst).

Die Schenkung der Galerie Bruno Bischofberger.

Zwei nebeneinander hängende, unterschiedliche grosse Landschaftsbilder von Jakob Vetter (1866-1937) fallen mir aufgrund der grosszügig grünen Flächigkeite auf. Ich würde sie – wie auch viele andere – sofort bei mir zu Hause aufhängen. Dieses Dunkelgrün und die darin platzierten Häuschen mit Ziegeldächern, die unterteilenden Wege, Strassen, Zäune, Schienen und alle anderen feinen Details finde ich in ihrer komplexen Einfachheit so liebevoll herzlich wie grossartig und modern. Vetter war von Beruf Sticker, wie so viele damals. Daneben war er aber auch Sennenmaler, Sennensattler und gelegentlich auch Schöpfer von Chlausenhauben. Von ihm gibt es nur wenige Bilder.

Wunderbar, die Appenzeller Streusiedlung auf grüner Hügelfläche mit Zaunstruktur, gemalt von Jakob Vetter.

Das kleinere Bild zeigt eine Ansicht von Urnäsch und ist als Schenkung der Galerie Bruno Bischofberger deklariert. Und dazu fällt mir einiges ein. Zum Beispiel Andy Warhol, der ja diverse Mona Lisas geschaffen hat; nach der Amerikareise 1961 (in einer unsinkbaren Kiste an Bord des Luxusliners France). Ausgestellt wurde das Original 1963 in Washington und in New York. Die vierfache Mona Lisa von Warhol sei eines der ersten Werke, die der Künstler in seine seit 1962 typische Siebdrucktechnik eingesetzt habe. Henry Geldzahler, Gründungskurator des Museums für zeitgenössische Kunst, schenkte sie dem Metropolitan Museum, in dem ja auch die originale Gioconda ein grossen Auftritt hatte.

Ansicht von Urnäsch, gemalt von Jakob Vetter, geschenkt von Bruno Bischofberger. Interessant auch der Vergleich mit dem Pressefoto zum Dorf des Jahres 2022 (s. oben).

Andy Warhol- und Jean Michel Basquiat-Galerist Bruno Bischofberger (*1940) ist wohl einer der weltberühmtesten Appenzeller überhaupt. Der Kunsthistoriker, Kunstsammler und Kunsthändler gilt als einer der kenntnisreichsten Sammler von Appenzeller Volkskunst. Eine interessante Tatsache, die einmal mehr unterstreicht, dass das Leben und dessen Reize in den schillernden Widersprüchlichkeiten stecken, die oft mehr gemeinsam haben als es oberflächlich scheint, und nicht in fundamentalistisch-bürokratischen Kultur- und Denkmalpflege- und andern Doktrinen.

Unerklärlicherweise ist das im Grunde hochinteressante, vergriffene Buch der Sammlung Bischofberger Volkskunst aus Appenzell und dem Toggenburg (1973), das ich mir antiquarisch beschaffe, hauptsächlich mit grauwertigen Schwarzweissbildern bestückt, was in Sachen Malerei für mich ein No-Go ist. Von Jakob Vetter finde ich darin vier Arbeiten. Zwei sind Messingbeschläge für Hosenträger und Schelle. Von den andern beiden würde ich nur die mit den geschnitzten Kühen vor dem später von Robert Fässler dazu gemalten Hintergrund zuhause aufhängen. Als das Buch zustande kam seien von Vetter gerade mal vier Ölbilder bekannt gewesen. Vetter habe viel geschnitzt und seine Darstellungen gehörten zu den originellsten überhaupt. Das ist halt auf solch grauweissen Abbildungen schlecht zu erkennen. Und über Geschmack lässt sich bekanntlich trefflich streiten oder eben gar nicht, gell.

Intermezzo: Obacht Kultur. Das Kulturblatt. No. 5/2009

Beim Guguselen stosse ich auf das PDF Obacht Kultur No. 5/2009/3 mit dem Titel «Rätsel Urnäsch», das ein Interview von Hanspeter Spörri mit Bruno Bischofberger enthält:

Sie handeln mit zeitgenössischer Kunst, lieben aber auch die Appenzeller Volkskunst.
Finden Sie im Brauch des Silvesterchlausens auch Aspekte der Kunst?

Es ist etwas Magisches dabei, es geht um Gut und Böse, um Seelisches, um Ästhetisches, um Ausdruck. Und es entsteht – wie authentische Volkskunst – aus einem echten Bedürfnis heraus.

Wann ist Appenzeller Bauernmalerei authentisch?
Wenn der, der das Bild malte, um ein echtes Bedürfnis zu befriedigen malte, für einen echten Auftraggeber. Die Abnehmer waren einst Bauern, die ihre Häuser porträtiert erhielten, ihre Alpen, den Säntis oder eine Alpfahrt als Erinnerung an die halbnomadische Sommerzeit, an die Freiheit, an ein Leben, das vielleicht mit jenem der Hippies verglichen werden kann, ganz mit der Natur und den Tieren verbunden. Damals hat man ja auch noch wirklich auf der Alp gelebt, ist nicht täglich ins Tal gefahren.

Vielleicht ist das jetzt etwas weit hergeholt, aber gibt es auch da einen Bezug zu Urnäsch? Hat auch Warhol mit seiner Pop Art in einem gewissen Sinn aus dem Unbewussten heraus gearbeitet, wie die Silvesterchläuse versuchten, das Böse zu bannen?

Ich war mit Warhol auch einmal in Urnäsch, einen ganzen Tag lang, und habe mit ihm interessante Sachen erlebt. Das Unbewusste spielt bei jeder Person eine Rolle. Bei weniger schulisch gebildeten Menschen, die mit der Natur leben, spielt es vielleicht eine noch grössere Rolle, also zum Beispiel in der echten Volkskunst. Den Praktizierenden ist es aber eben nicht bewusst, dass es da um Unbewusstes geht.

An einer Stelle sagt Bruno Bischofberger, dass es beim Silvesterchlausen, das sich heutzutage bei den Jungen wieder grosser Beliebtheit erfreut, in den fürhen 1960er Jahren nur wenige Schuppel gegeben habe und er gar das Aussterben des Brauches befürchtete. Das fiel in die Zeit des im gleichen Heft von Hanspeter Spörri befragten Sämi Frick (*1956), der bereits als Fünfjähriger als Silvesterchlaus unterwegs war (Spasschläuse werden übrigens die «wilden» Chläuse genannt, die keinem Schuppel zugehören):

Wie ist das eigentlich mit dem Spasschlausen? Wird da bewusst gegen Regeln verstossen?
Früher gab es eigentlich nur das Spasschlausen! Als ich ein Bub war, in den frühen 60er Jahren, hat man sich einfach ein paar Tannenäste in den Mantel und auf den Hut gesteckt oder einen Lampenschirm auf den Kopf gesetzt. Man nahm, was gerade zu finden war, um das Chlause-«Groscht» zu gestalten.

Das Chlausen hat trotz allen früheren Einschränkungen überlebt. Es kennt keine Regeln, war aber gewissermassen selber ein Regelverstoss.

Es hat im Tal hinten überlebt. Am Alten Silvester durfte früher im Dorf Urnäsch kein einziges Haus gechlaust werden. Erst als ich etwa 15 war, öffneten die Wirte im Dorf abends ihre Lokale. Und die Wirte vom Tal hinten waren erzürnt, sie schrieben einen bösen Leserbrief. Doch dann tauchten am Alten Silvester auch in Waldstatt Chläuse auf und innerhalb von wenigen Jahren wurde der Alte Silvester für Urnäsch zum Grossereignis.

Das Chlausen ist also ein Beispiel dafür, dass sich alles fortlaufend verändert.

Sogar der Rhythmus des Schellens verändert sich! Manche Junge glauben, er müsse genau so sein wie heute. Dabei war er einst ganz anders. Und wenn wir wieder einmal so chlausen wie früher, die Schellen so erklingen lassen wie damals, dann meinen viele, das sei nicht richtig, entspreche nicht der Tradition.

Hier gehts zu Obacht Kultur in der Jetztzeit.

Von der verbannten Figur «auf Tuch elend gemalet» zum Museums-Highlight.

Nun aber zur wechselvollen Geschichte des oben angedeuteten Museums-Highlights, das ich in einer Koje hinter Glas entdecke. Es handelt sich um die 1350 (beidseitig) in Öl auf Leinwand gemalte Urnäscher Rhodsfahne und sei die älteste noch vorhandene bildliche Darstellung des Appenzeller Bären. Aufrecht schreitet er auf einen bärtigen Mann mit langen Haaren zu, der in violetter Robe, mit einem roten, togaartigen Umhang bekleidet ist: Heiligenschein, das Buch im linken und ein grosses Kreuz im rechten Arm weisen ihn als Apostel Philippus aus. Und wieder, überdeutlich: das Schnäbi. (Hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag Bier, Bär & Dibischnäbi.)

Unverspiegelt und unverfälscht, da nie übermalt; nur der Zahn der Zeit nagte daran: Die spiegelverkehrt gemalte, original belassene Rückseite der Urnäscher Rhodsfahne, übernommen von museum-urnaesch.ch.

Auch hier zeigt sich, was wir in diesem Beitrag schon x-fach erkannt haben: Kultur kommt nicht aus dem reinen, unschuldigen Nichts. Auch hier mischen sich Stile, weil jemand mal auf einer Seite den Heiligen übermalt hat. Auch hier sind die Herkunftsgeschichten Mutmassungen und nicht so sicher wie das Amen in der Kirche. Die Fahne soll nach Aussagen des Chronisten Johannes Fisch (1757–1819; er kopierte die Darstellung 1816) aus italienischen Feldzügen stammen. Beweise gibts nicht. Zudem verwechselt er zwei Antoniusse, was mir genausogut passieren könnte. Aber ohalätz, ein italienischer Bär als Stammvaterbär des Appenzeller Bärs. Da hör ich schon die Wölfe heulen.

Laut Pfarrer Johannes Künzler ist die Fahne im Zuge der Reformation 1524 aus der Kirche entfernt worden. Reformierte kennen keine Heiligen. In die kirchliche Treschkammer sei sie wohl erst nach dem Brand von 1641 gekommen, da sie ja sonst verbrannt wäre. Noch dreihundert Jahre später urteilte der Pfarrer, die Figur des Heiligen sei «auf Tuch elend gemalet». Aber den katholischen Innerrhödlern überliess man die Fahne aus purem «Religionshass» nicht einmal im Tausch gegen die holzreiche Sommeralp Langfluh, auch Nonnenfluh genannt. Lieber behielt man den unnützen Fetzen. Aber, oh Wunder, die Zeiten und Zeichen ändern sich: 1855 lässt man die Fahne reparieren, 1949 restaurieren und im Gemeindesaal aufhängen. 2007 wurde das Tuch von unschätzbarem Wert erneute untersucht und restauriert.

Lockdown in Urnäsch: Mein Bärenhunger bringt mich um, aber alles ist mitleidlos zu!

Kurz nach 11 Uhr finde ich mich an der Kasse ein, nun doch neugierig geworden auf den Film, der mir am Empfang schon empfohlen wurde und auf meinen Wunsch laufen gelassen würde. Sie sei sowieso meistens länger hier, beruhigt mich die Dame aufgrund der Sorge, dass es bis zur Museumsschliessung nicht mehr reiche. Der rund 20-minütige Film bietet eine gute Übersicht über das Brauchtum im Appenzellerland: Silvesterchlausen, Bloch-Umzug, Alpfahrt, Viehmarkt. Ich hätte mir noch ein Kapitel über Geschichte und Entwicklung der Sennenmalerei gewünscht. Aber die zweieinhalb Stunden waren im Nu rum und zufrieden Gefühls kehre ich zurück an die wärmende Sonne des Hier und Jetzt – mit einem Riesenkohldampf.

Logo, die Restaurants am Dorfplatz haben alle zu (und auch die weiteren, die ich finde). Egal, wo ich es probiere: GESCHLOSSEN. RUHETAG. BETRIEBSFERIEN. WEISS DER SATANSBRATEN. Der Showdown dieses Beitrags endet in einem erbarmungslosen Lockdown der hungrigen Art. Aber ich scheine auch weit und breit der Einzige sein, der etwas zu essen sucht – praktisch allein auf weiter Flur. Von mir allein als Gast hat natürlich auch niemand gegessen. Hm, schön vermöbelt, der Narr, der aus den Niederungen kam.

Immerhin: Der Höhepunkt dieser Geschlossenheitsorgie endet beim Löwen mit verheissungsvolle OFFEN-und Gluschtigmacher-Tafeln unter anderem auch mit Appenzeller Bier-Logo. Und siehe: Die Beiz hat Betriebsferien, die Metzgerei zu. Der hungrige Esel am Berg. Mahlzeit & en Guete mitenand! Das hätte ich in Urnäsch in den Sportferien so krass nicht erwartet, aber: Es isch, wies isch. Mit knurrendem Magen und knurrendem Kopf fahre ich nach Hause, um mir später selber etwas zu kochen. Auf den Speisewagenfood habe ich nun würkli sowas von null Bock. Ich habe fertig, Quöllfrisch leer! Me gseht sech.

Von OFFEN bis OFFEN – der vielkantige Kreis schliesst sich. Das Urnäscher Zmittags-Geschlossenheits-Feuerwerk am helllichten Mittag dieses Valentinstags 2023 in Bildern:

Dass die Taube zu ist, ist offensichtlich. Aber dass der Löwen auch zu ist, wenn ich komme, steht da nicht geschrieben.
Ochsen am Dorfplatz: Die Biermarke hätte ich geschluckt, aber das Täfeli gab mir nichts zu beissen. Sieht für länger zu aus.
Engel am Dorfplatz: Bis 19 Uhr bin ich verhungert, also weiter.
Krone an der Ecke zum Dorfplatz: Ruhetag vom Dolce Vita.
Prachtvoll lockt das Kreuz.
Tja, dann.
Doppelter Reinfall beim Löwen, der laut Tafel bei der Taube offen sein soll: Restaurant zu…
… und trotz anderslautenden, hoffnungsfrohen Lock-Messages auf dem Tafelwald auch Metzgerei rammelzu. Nun fühlte ich mich endgültig an der roten Pinoccionase rumgeführt. Sind die jetzt in die Ferien und haben die Tafeln einfach stehen lassen? Oder machen sie über Mittag zu, obwohl sie – dann noch auf einer Appenzeller Bier-Tafel – auch «feines Mittags-Menü» ankündigen? – Ja, heimazack, die Wege der Urnäscher:innen sind wahrlich unergründlich!

Eine «ungemalte Landschaft» ist die Landschaft in unseren Köpfen, die wir uns durch Erziehung und Lektüre aufgebaut haben und die es uns erlaubt, die Umwelt als Landschaft wahrzunehmen und ihr eine Bedeutung zuzuordnen. Der kleinste Eingriff wäre derjenige, der eine Landschaft verändert ohne den Einsatz von Bulldozzern und Kunstdüngern, alleine dadurch, dass die ungemalte Landschaft in unseren Köpfen verändert wird und wir deshalb der Landschaft, die wir erblicken, eine andere Bedeutung geben.

Lucius Burckhardt: Der kleinstmögliche Eingriff. Martin Schmitz Verlag Berlin 2013

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