Die wahre Geschichte des Appenzeller Vollmondbiers beginnt in Zürich. Oder in Thailand, je nachdem. Seine Lancierung vor bald 30 Jahren hält die Bierlandschaft Schweiz bis heute in Bewegung – Beer’n’Roll over Switzerland.
Ende 1980er, Anfang 1990er Jahre. Thailand. Das flüssige Licht des Vollmonds tanzt auf den Wellen des Meeres im nächtlichen Paradies. An der Strandbar sitzt der in Zürich aufgewachsene Appenzeller Viktor Bänziger mit seiner damaligen Partnerin Andrea Steiner. Ein Orca (Schwertwal) sticht aus dem Wasser empor gen Sternenhimmel und verdeckt kurz die runde Käsescheibe des Mondes, bevor er mit voller Wucht zurück platscht und im Schwarzwasser verschwindet. Tausende von Sternschnuppen verglühen am sternenübersäten Himmelszelt. Das ganze Glück der Welt tanzt mit dem Liebespaar auf ausperlenden Gischt.

Alles wahr, im Fall. Wirklich so passiert. Jedenfalls entsteht in der exotischen Traumkulisse die Grundidee für das spätere Hausbier des Zürcher Szenelokals el Internacional (heute: el Lokal). Es wurde zum Türöffner für das quöllfrische Appenzeller Bier in Zürich und andernorts in der Schweiz. Und es ist eigentlich auch der Startschuss zur Arten- und Sortenvielfalt im heutigen Bierland Schweiz mit den vielen Kleinbrauereien. Kaum 30 Jahre ist das her und schon weist das kulturelle Gedächtnis erhebliche Lücken auf. Das viel beschworene digitale Gedächtniswunder – ein Schuss in den Ofen. Ist vielleicht ganz gut so, denn Vergessen ist ebenso wichtig wie Erinnerung.
Downtown in Zwinglizwingzwangtown
Das Wort Laune komme direkt vom Mond, heisst es in der NZZ vom 12.7.2019. Denn die veränderliche Form unseres Erdtrabanten – von Leer- über Halb- zu Vollmond retour und in Endlosschlaufe – wurde im Laufe der Zeit auch mit der Flüchtigkeit des Glückes verglichen. So reimte ein mittelalterlicher Dichter Fortuna, wie Luna in deinem Stand veränderlich, immer wächst du oder schwindest…
Früher wars alles andere als alles besser. Früher, als Zürichs Needlepark mit seinen echten Walking Deads traurige Weltberühmtheit erlangte. Früher, als Zürich eher das humor- und toleranzlose Gegenteil einer Festhütte war und es das Wirtepatent und die Polizeistunde gab. Früher, als das Bierkartell noch die Bierschweiz dominierte. Früher, als die Hausbesitzer die Bierverträge abschlossen, die der Wirt dann ohne gross davon zu profitieren, erfüllen musste. Früher, als nicht nur die Zürcher Traditionsbrauereien einander gegenseitig schluckten und verschwanden, bis sie am Ende in Feldschlösschen aufgingen bzw. zur dänischen Carlsberg-Gruppe gehörten – oder zur zweiten Globalbrauerei holländischen Ursprungs. Die Brauerei Locher hat mit dem Vollmondbier den Puls der Zeit genutzt, sich innovativen Ideen geöffnet und sich so bis zur heutigen fünften Generation unabhängig und erfolgreich behauptet. So freute ich mich als Wenigflieger sehr über das Quöllfrisch auf Swissair-Flügen – oder war es erst in der Swiss?

Zurück zum flunkernden, romantischen Anfangsbild mit dem Liebespaar unter dem thailändischen Honigmond. Ein bisschen Seemannsgarn muss sein (nein, Fake News ist was anderes, Leute; Seemannsgarn gehört zu jeder guten Geschichte, die das Leben schreibt). Der Orca katapultiert sich nur auf einem Bild hinter der Bar gen Himmel und zwar ohne Vollmond; die Sternschnuppen sind möglicherweise wirklich verglüht. Und die Träume dazu muss man für sich behalten, sonst kommts nicht zur Erfüllung. Der Vollmond kommt und geht seit Urzeiten, ist also immer und allüberall derselbe; mal käseweiss, mal blutmondorange, mal grösser, mal kleiner – ein zuverlässiger Bote steten Werdens und Vergehens. Die Bar ist echt, ob es sie noch gibt, wissen wir nicht.
Die beiden Protagonisten sind ebenfalls real, nicht mehr als Paar, aber als gute Freunde mit regelmässigem Kontakt. Sie erfinden damals kurzerhand neu, was die Brauerei Hürlimann einige Jahre früher mit ihrem ebenfalls bei Vollmond gebrauten, dunklen Hexen Bräu begonnen hat. Ich habe es selbst öfters getrunken, aber dass es in Vollmondnächten gebraut wurde, ist mir total entfallen. Stand wahrscheinlich nur nebenbei im Text der rückseitigen Etikette.
Hexen Bräu – mit Erfolg gegen den Strom und das Marketing
Claude Preter, Regional Sales Manager SH/Wthur/ZH-Ost, mailt mir auf meine Anfrage zum Hexen Bräu: «Das Häxebräu wurde wohl in den 70ern lanciert (Martin Hürlimann war ab 1964 im Betrieb und die frühste Werbung finde ich 1978) – genau kann ich Ihnen das aber auch nicht sagen. Besonders daran war, dass es gegen die ausdrückliche Empfehlung der Marketingabteilung lanciert wurde mit gewaltigem Budget, und – notabene zum Erstaunen vieler – ein relativ guter Verkaufserfolg wurde, in einer Zeit, in der die Konsumenten Dunkelbiere nicht mehr nachfragten. Martin Hürlimann wollte das aber eben unbedingt machen und es wurde ausschliesslich bei Vollmond gebraut – man sagt, Martin Hürlimann hatte ein grosse Schwäche für die Mystik und wohl eine esoterische Ader..! – Da ich in meinem Keller 2 davon habe, hier ein Foto – mit bierigen Grüssen – Claude Preter.» – Und die trinkt er noch, wie er weiter schreibt. Er sei diplomierter Biersommelier und bei fachgerechter Lagerung seien solche Raritäten unter Enthusiasten sehr begehrt. Trotz anderslautendem Ablaufdatum.

Wie beim Züri-Appenzeller-Vollmondbier ging es also schon damals nicht bloss um eine abstrakte Marketingidee, sondern vielmehr um die Überzeugung, dass der Vollmond mit seinen magischen Kräften auch im Bier wirke. Und einen charismatischen Patron, der aus persönlichter Überzeugung handelt. Aber es klingt nach grösserem Geldeinsatz für die Vermarktung des dunklen Hexengebräus; und man hat die im Bier gesammelte Kraft des Vollmonds wahrscheinlich nicht an die grosse Glocke gehängt, sondern wie schon oben vermutet, nur beiläufig auf der Rückseite der Flasche erwähnt. Und im einheitlichen Hürlimannschen Corporate Design wird das dunkle Hexenbräu ein Produkt unter vielen. Die Magie des Mondes bleibt Beilage. – Beim Erzählen dieser Geschichte gibts also noch viel Luft nach oben. Fortsetzung folgt.
Die Zeit ist reif für das Appenzeller Vollmond Bier
Zurück in Zürich suchen Bänziger und sein Geschäftspartner zur Umsetzung der Bieridee eine weltoffene Brauerei. Das heisst: Klinkenputzen. Alle – auch die damals noch nicht zu Feldschlösschen bzw. Carlsberg gehörende Brauerei Hürlimann – winken ab. Bis auf die Brauerei Locher. Dazu Karl Locher sen. im Tages Anzeiger Magazin vom 15. Mai 1992: «Als Peter Brogli und Viktor Bänziger von der Zürcher Bar ‚EI Internacional‘ an uns herantraten mit der Idee, in Vollmondnächten Vollmondbier zu brauen, war ich sofort überzeugt von dem Vorschlag. Meine Frau zum Beispiel orientiert sich sehr stark nach dem Vollmond.»
Auch wenn es wissenschaftlich nicht zu beweisen sei – wie so vieles –, lege ich meine Hand dafür ins Feuer, dass die Wirkung des Mondes auf unser Gemüt eine erhebliche ist. Wenn der bleiche Trabant die Gezeiten Ebbe und Flut bestimmt und die sieben Weltmeere hin- und herzuschieben oder -ziehen vermag, wie soll der aus siebzig Prozent Wasser bestehende Mensch von solchen Anziehungs- und Fliehkräften verschont sein. Unmöglich. Ganz ohne esoterisches Bumm-Bumm und wissenschaftliche Beweise.
So kommt also der Vollmond durch Karl Locher sen. höchstpersönlich in die Flasche und der Orca auf die erste Etikette des Hausbiers des el Internacionals (TA Magazin 1992):«An Vollmondtagen beginne ich wie üblich um halb sechs zu arbeiten und starte nach einem Kontrollgang durch die Brauerei das Sudhaus und die Dampfkessel. Das dauert etwa eine Stunde, dann gehe ich zum Frühstück nach Hause. Seit Jahren esse ich morgens ein weichgesottenes Landei aus Bodenhaltung und trinke dazu einen Schwarztee. Danach gehe ich wieder in die Brauerei. Um sieben Uhr früh, wenn die andern kommen, muss die Arbeit zugeteilt werden. Wir sind von der Saison ab hängig. Gebraut wird praktisch immer, aber abgefüllt wird nach Wetter und Bedarf. Um zwölf gehe ich fürs Mittagessen zu meiner Frau nach Hause. Normalerweise lege ich mich danach für eine Stunde hin, an Vollmondtagen etwas länger. … Abends um acht bin ich an Vollmondtagen als einziger wieder in der Brauerei, denn ein Mann reicht aus um das Vollmondbier zu brauen. Gespenstisch finde ich das Alleinsein bei Vollmond nicht und es wird mir auch nicht langweilig, obwohl der ganze Brauprozess computergesteuert und vollautomatisch läuft. Ich bin der Ansicht, dass trotzdem jemand da sein sollte, wenn auch nicht die ganze Nacht im Sudhaus. Ich habe Büroarbeiten zu erledigen und schätze es, einmal völlig ungestört arbeiten zu können. Alle zwei Stunden mache ich einen Kontrollgang zum Dampfkessel, aber bei einer Panne der Computer sofort auf Störung schalten und die Hupe in Gang setzen.»
Feierabendbierli im Restaurant Schiffbau
Nebst dem el Internacional (heute: el Lokal an der Gessnerallee 11) und dem Restaurant Felsenegg auf dem Üetliberg führt Bänziger zu der Zeit auch noch das Restaurant Schiffbau (hat mit dem heutigen Schauspielhaus-Schiffbau-Aquarium nichts zu tun; aber an ein Aquarium mit Piranhas, die andere Fische immer von hinten her anknabberten, erinnere ich mich tatsächlich) am Escher-Wyss-Platz, wo ich vor der Erfindung des Vollmondbiers im Service arbeite. Zürich ist weit weg von der heutigen Vielseitigkeit an Angeboten; Züri-West serbelt als absterbendes Industrieeinöde vor sich hin und ist längst nicht die stolze Party-Meile, die sich laut NZZ seit 2016 auch schon wieder auf dem absteigenden Ast befindet. Man kann sich die Zeit kaum mehr vorstellen, aber die damalige Kulturwüste führt natürlich zu den bekannten Unruhen bzw. zum Aufschrei der Jugend für ein weltoffeneres Zürich. Die erste, noch überschaubare und längst nicht kommerzialisierte Streetparade findet 1992 als bewilligte Demonstration für Liebe, Friede, Freiheit, Grosszügigkeit und Toleranz mit ein-zwei Tausend Raver*innen statt. Inzwischen ist die Stadt übersättigt, von allem gibts zuviel. Dauerklamauk und Überangebot sind weder zu übersehen noch zu überhören – und für viele Clubbetreiber*innen, Wirt*innen und sonstigen Veranstalter*innen wird das Überleben zunehmend schwierig.

Das Restaurant Schiffbau aber leistet Pionierarbeit in einer zu streng reglementierten Stadt mit einem beschränkten und einseitigen Kultur- und Unterhaltungsangebot und eröffnet – wie das Vollmondbier den heutigen Reigen der Spezialbiere – die heutige Beizenvielfalt. Es finden Konzerte einheimischer wie internationaler Bands statt sowie Lesungen. Wer in kultureller Hinsicht etwas auf sich hält, taucht früher oder später im Schiffbau auf. Einmal im Jahr mindestens. Der Laden brummt. Karl Locher jun. befindet sich in den Startlöchern, die Brauerei zusammen mit seinem Cousin Raphael Locher zu übernehmen, gibt an der nahen Berufsschule sein Braumeisterwissen weiter und kredenzt vor der Rückreise nach Appenzell mit dem Gastwirt Viktor Bänziger ab und zu eines der dort ausgeschenkten belgischen Biere: Stella Artois, Leffe, Wittekop (später Hoegaarden), Pauwels Kwak und Pêcheresse. Ein erster Versuch, das unkreative Bierdiktat jener Zeit zu knacken. Schon da gibt es also erste Berührungspunkte zwischen der Brauerei Locher und dem Züri-Appizöller Bänziger. Die belgischen Biere weichen später dem Appenzeller Bier; bis heute gewinnen die einheimischen Biere gegenüber ausländischen klar an Marktanteil.
Das erste Bio-Bier der Schweiz & der erste Appenzeller im Vollmond
Als die erste Flasche Vollmondbier im «Inti» eintrifft, wird der Schiffbau schon von andern Gastro-Unternehmern geführt und in Don Weber umgetauft. Keine Ahnung, wie der Laden heute heisst, jedenfalls schon wieder anders. Das Vollmond ist damals noch ein Lagerbier mit 4,8% Alkoholgehalt. Immer neue Künstleretiketten prangen auf der Flasche, zeugen – zukunftsweisend – von einer neuen Zeit des konstanten Wandels. Und von unternehmerischer Kreativität. Auch Traditionen müssen sich neu erfinden, um lebendig zu bleiben. Dann kauft die Brauerei Locher die Rechte und lanciert damit – nun als Spezli mit 5,2% – das erste Bio-Bier der Schweiz, als die Bio-Bauern noch mild belächelt oder lauthals als Spinner (engl. lunatics!) ausgelacht und teilweise gar beschimpft werden.
Das Bier geht weg wie warme Weggli, verbreitet sich ohne grossen Aufwand in den damals noch wenigen Szenebeizen und zahlreichen illegalen Kellerbars und -clubs und mausert sich für eine gewisse Zeit zum weit verbreiteten Kultbier, das es heute immer noch gibt. Und es ist die Initialzündung für die Brauerei Locher und für die ganze Bierschweiz sich mit Einfallsreichtum und Qualität im Markt zu behaupten. Weitere Spezialbiere kommen auf den Markt, Kleinbrauereien schiessen wie Pilze aus dem Boden. Sind es 1990 noch 32 Brauereien, zählen wir heute über 1’100. Und wo immer ich hinkomme, loben die Menschen das Appenzeller Bier, das sich im Geschmack wohltuend von andern unterscheidet.

Es war eben eine richtige Bieridee, die dank alltagspoetischer Glaubwürdigkeit zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit den richtigen Geschichten lanciert wurde. Ganz ohne Insta, Gesichtsbuch, Leuchtbrettchen und sonstige digitale Sternschnuppen. Und ganz ohne millionenschweres Marketing. Etwas von den magischen Kräften des Vollmonds muss also in diesem Bier spürbar Wirkung entfalten. Logisch. Das seit 2000 ebenfalls in Vollmondnächten für die Kulturbeiz el Lokal separat gebraute Lokalbier mit Porzellanverschluss kommt dem Ur-Vollmond des el Internacional wohl am nächsten und zeugt von dieser bierologischen Erfolgsgeschichte der kreativen Zusammenarbeit einer kleinen Familienbrauerei in Appenzell und einer kleinen Szenebar an der Zentralstrasse im Zürcher Kreis 3, in der ein späterer Tippgeber der Fraumünster Millionen-Posträuber gewissenhaft den täglichen Putzdienst erledigte. Das erfuhren wir natürlich erst nach dessen Auffliegen, sonst wüssten wir vielleicht, wo die bis heute verschwundenen 27 Millionen Franken geblieben sind (Teil 1 / Teil 2).

Und ganz nebenbei erfahre ich bei diesen Recherchen, dass der erste Science Fiction-Autor ein Grieche namens Lucian war, der einen Menschen in der Komödie Icaromenippus oder die Luftreise zum Mond schickte; flugtechnisch bewehrt mit nichts als einem Adler- und einem Geierflügel. Besagter Lucian hätte wohl niemals geglaubt, dass eineinhalb Jahrtausende später, am 21. Juli 1969, Neil Armstrong tatsächlich diesen grossen Sprung der Menschheit mit einem kleinen Schritt wahrmachen würde. Aber dass ein gewitzter Karl Locher sen. den Vollmond in die Flasche zaubert, das hätte er wohl durchaus geglaubt – und auch gerne einen Schluck probiert. A propos: Fast hätten wir den ersten Appenzeller auf dem Vollmond vergessen: Quöllbisch forever!