Quöllfrisch unterwegs in Laufen BL
Roy Bruggmann, der Appenzeller Ansprechpartner für BL, BS und SO, schreibt mir, er habe einen interessanten Kunden für einen Blogbeitrag: Der Künstler David Pflugi habe durch einen Grossbrand alles verloren und nun wieder eine neue Galerie, in der Appenzeller Biere ausgeschenkt werde. Nicht nur Brandlöscher, wie mir die Dame – inzwischen weiss ich, dass sie Ela Larboulette heisst – am Telefon versichert, als ich den Termin für einen Besuch abmache.
«Man hat den Kubismus mathematisch, geometrisch, psychoanalytisch zu erklären versucht. Das ist pure Literatur. Der Kubismus hat plastische Ziele. Wir sehen darin nur ein Mittel, das auszudrücken, was wir mit dem Auge und dem Geist wahrnehmen, unter Ausnützung der ganzen Möglichkeiten, die in den wesenhaften Eigenschaften von Zeichnung und Farbe liegen. Das wurde uns eine Quelle unerwarteter Freuden, eine Quelle der Entdeckungen.»
Pablo Picasso
Es war noch bevor die Pandemie mit Lockdowns und Maskenpflicht über uns hereinbrach und den Chienbäse-Umzug versenkte, als ich den ersten baselbieter Blogbeitrag für Quöllfrisch unterwegs verfasste. Der hatte mit einem erwünschten Feuer (und Appenzeller Brandlöscher) zu tun, das nicht zum Brennen kam, während dieser aktuelle Beitrag von einem unerwünschten Brand und dem inneren Feuer des Kunstmaniaks David Pflugi handelt. Termin in Laufen: 15. September 2021, 14 Uhr. Im Zug konsultiere ich die Website und stosse auf eine ziemlich schrille und hyperaktiv wirkende Welt. Pflugis Kunst – die Vereinigung von Malerei und Bildhauerei – sei denn auch nicht zur Kontemplation gedacht, heisst es da, sondern um die Betrachter*innen in Bewegung zu halten. Und weiter: Durch diese Vereinigung von Bildhauerei und Malerei erschafft David Pflugi dreidimensionale Reliefs und Skulpturen, auf denen er wiederum zweidimensionale Bilder entstehen lässt. Diese Einblicke sind jedoch nur wahrnehmbar, wenn der Betrachter das Werk aus den entsprechenden Perspektiven entdeckt. Je nach Blickwinkel ergeben sich völlig neue Bilder und Szenen und in den Räumen zwischen den Ansichten entstehen Figuren und Formen, ein wilder Tanz ungebändigter Farben.
Auf dem Einstiegsfoto sitzt der Meister des Fusionismus himself mit einem kontemplativen Glas Rotwein inmitten eines seiner riesigen Reliefs, das noch in weisser Unschuld seiner Bemalung harrt. Es heisst «Key to Success» und wurde für den WM-Final 2018 in Russland geschaffen. Er scheint also doch auch ein Geniesser zu sein. Aber davon später.
Ich war noch nie in… Laufen
Beginnen wir mal in Laufen. Ich laufe also durch Laufen und die doofe Google-Karte im Handy behauptet trotz voller 4G-Kraft dauernd, es gebe keine Verbindung zum Internet. Wie immer fällt mir dann wieder ein, dass das immer wieder so ist, weiss der Kuckuck, warum. Immer, wenn der Digishit gebraucht wird, ist er grad unpässlich. Ooops, da ist etwas schief gelaufen!, sagt der Hase, der das Kabel durchgebissen hat. Jedenfalls will ich nicht wieder irgendwo im Gaggo landen, wie damals bei der Brandlöscher-Agentur Sichtwerk in Appenzell, als mich die falsche Karte an den falschen Ort lotste. Auf der Suche nach einem Schild, das mir bestätigt, dass ich in der Wahlenstrasse durch Laufen laufe, entdecke ich am Restaurant «Loki» – mit kurzem Mikro-Schizophrenie-Schub – unter einem Ziegelbierschild mit Dampflok den quöllfrischen Traditionsbraubären mit den drei blauen Bierkugeln im Wappen und sage mir ernüchtert: Pfadfinder, frag in dieser Zufallsbeiz deines Vertrauens mal ganz traditionell nach dem Weg. Ein Gast bestätigt, dass ich richtig sei, ich könne einfach weiterfahren. Zu Fuss, entgegne ich, in Laufen müsse man doch laufen. Logisch. Er: Haha, genau. Und in Zwingen zwingt man. Haha!

Ich verkneife mir, mit einem weiteren Spruch irgendeine unerwünschte Impfzwanggeschichte anzustossen und bedanke mich. Denn ein bisschen weiter vorn verbreiten mit je einem Schweizerkreuz die gepinselten Namen von sechs nichtlustigen Spassvögeln allen Ernstes und aufdringlich den hanebüchenen Chabis, das grösste Verbrechen an der Menschheit passiere gerade jetzt. Augen zu, Kopf runter, Schnurre zue und auf und davon. Vorbei an der berühmten, inzwischen auch nur noch Englisch kommunizierenden Badkultur-Manufaktur «Laufen. Bathroom Culture since 1892». Nach ein paar Schritten stehe ich schon vor Pflugis Werkhallen, Fusion Factory genannt, eine Viertelstunde zu früh. Also kurve ich ein wenig ums Gebäude im früheren Werkgelände der erwähnten Badkultur-Manufaktur.
Als ich wegen der Spiegelung die Nase an eine Scheibe drücke, um hineinzuschauen, geht die Tür auf: Ela stellt sich vor und führt mich schon mal durch die riesigen Hallen. Der Meister sei noch unterwegs. Ela scheint der gute Organisationsgeist zu sein, der ihm alles Bürokratische möglichst vom Leibe hält. Und vermutlich noch vieles mehr.

Eigentlich hatte ich ja ursprünglich den Verdacht, da sei einer dieser Grosskunstbluffer mit aufgeblasenem Ego-Gigantismus unterwegs, wickle alle um den Finger und drehe Ihnen seine auffällige Oberflächenkunst zu horrenden Preisen an, um sich dann mit einem oder mehreren Ferraris zu pimpen und als Genie feiern zu lassen. Aber schon bei der Betrachtung seiner Videos nach dem Atelierbrand merke ich, dass dem nicht so ist. Dort erzählt ein betroffener, freundlicher, unaffektierter Typ mittleren Alters über den Vorfall. Dass er einige Werke retten konnte und dass er weitermachen werde.
Und siehe: Die Fusion Journey (Fusionsreise) in der Fusion Factory (Fusionsmanufaktur) fusionierte den bloggenden Pflugi-Skeptiker zum anerkennenden Pflugi-Sympathisanten. Da verfolgt einer einen Plan, der auf solidem Hand-, Herz- und Kopfwerk gründet und so kontinuierlich wie konsequent wächst. Zum Gesamtkunstwerk Fusionismus gehören denn auch Performances, Live-Musik und Beleuchtungskonzepte. Diverse Projekte formieren sich im Hintergrund. Das Beste scheint also erst noch zu kommen.

50 Meter hohe Flammen – 50 Werke zerstört

Später schildert David Pflugi das Brandereignis persönlich. Morgens um halb fünf erhielt er einen Anruf von einem Bekannten, dass es in seinem Atelier Hallen brenne. Er fuhr sofort hin, habe noch vor der Feuerwehr die Gasmaske aufgehabt, vor dem Fenster eine 50 Meter hohe Flamme herausschiessen sehen – «dann wusste ich, jetzt muss ich seckeln» –, während sich die Stahltüren richtiggehend aufblähten. Pflugi zog wie in Trance soviele Objekte wie möglich alleine heraus. Vier Meter grosse Werke, die sonst zu viert bewegt werden. «Es wäre alles verbrannt, wenn ich nicht dagewesen wäre.» Ohrenbetäubende Explosionen. Irgendwann kam ein Teil des Daches herunter, dann habe ihn die Feuerwehr nicht mehr hinein gelassen. Erst später sei ihm aufgefallen, wie laut das Feuer gewesen sei. Brandauslöser war «eine defekte Zelle eines Lithium-Ionen-Akkus», wie es auf telebasel.ch heisst.

Insgesamt seien 50 Werke verbrannt, darunter das grosse Brasilienwerk «The Seeds of Victory» (2014), dessen Wiedergeburt in der Halle schon mal in Form des angefangenen weissen Riesenbabys zu sehen ist. Da hat er aber noch einiges vor sich und muss dann wohl auch die Unterschriften der Finalteilnehmer Deutschland und Argentinien noch einmal einholen! Jo, heimatzack, was für ein Aufwand! Oder: Wahrscheinlicher, dass er die Unterschriften noch hat, da ja alle Spieler mehrmals unterschreiben. Eine Halle von über 1000m2 ging verloren. Glück im Unglück: Da immer alles minutiös festgehalten werde, konnte Pflugi der Versicherung den Wert der verbrannten Werke mittels Verkaufsverträgen klar belegen. Sie sorgten dafür, dass die Versicherung zahlte. «Ich bin so gut organisiert. Wenn du oben ein Foto machst für einen Print und meine Unterschrift fälschst, finden wir das raus, weil du eine Perspektive verwendet hast, die es bei uns nicht gibt.»
A propos Perspektive, die es bei uns nicht gibt. Beim Gang durch die Fusion Factory stosse ich wiederholt auf Werke, die ich vermeintlich noch nicht gesehen habe. Erst dann merke ich, dass beispielsweise die Taube auch ein allsehendes Auge im Dreieck sein kann. Oder ein Dreieck mit Rechteck. Oder es wirkt von der einen Seite riesig, erscheint von der andern gar nicht so gross. Gleichzeitig wechselt das Objekt noch seine Farben in irritierender Weise wie ein Oktopus oder ein Chamäleon. Ohalätz, jetz chunsch aber nüme drus, gäll!
Quöllfrisch ist auch ohne Quölli mit dem Radl do

Vor dem Eintreffen des Künstlers führt Ela mich einmal durch die Hallen der Fusion Factory, von denen es auf der Website heisst: David Pflugis riesiges Atelier in Laufen, die Fusion Factory, ist bereits seit Jahren die wohl grösste unabhängige Kulturstätte in der Nordwestschweiz. Auf über 3000 m2 sind hunderte von faszinierenden Werken zu sehen, vom kleinen Bijou bis zur raumfüllenden Skulptur – und tagtäglich entsteht Neues. Immer wieder finden Events statt, ausgeschenkt wird Appenzeller Bier. «Ist einfach ein gutes Bier», sagt der Künstler. Eine kleine Auswahl steht auf der Theke in der Werkhalle, wo auch die Bankette stattfinden. Nach dem Brand habe man sich für das Appenzeller Bier entschieden. Hat also nichts mit meinem Brandlöscher-Running Gag zu tun, mit dem ich immer leer laufe. In Laufen, höhöhö. Im Moment ist vieles noch am Entstehen, drum muss je nach Anlass improvisiert und umgestellt werden.

Unter dem Dach befindet sich der Herzraum, gemalt in fluoreszierenden Neon- und Leuchtfarben. Eigentlich ist nur die oberste von 33 Schichten zu sehen. Das Zentrum bildet das Herzbild, das nie übermalt und bei jeder Schicht neu eingesetzt wird. Von ihm gehen alle Linien aus bzw. führen zu ihm hin. Der Herzraum sei sein Gehirn, hier seien alle seine Experimente seit 2016 entstanden, sagt David. Die 33. Schicht sei die letzte, der neue Herzraum werde unten sein, wo jetzt das Russland-Werk stehe. Aus den fertig gemalten Schichten könne er nun Stücke rausschneiden und schon habe man wieder ein neues Bild. Zudem sei auch in diesem Raum alles fotografisch haargenau festgehalten, durch mehrere Kameras, die alle paar Minuten ein Bild schiessen. Er weiss noch nicht genau, wie er die Schichten weiterverarbeiten wird: «Aber vielleicht versteigere ich jeden Tag ein Stück.» – Auf einem Tisch ein Papier mit dem Text «Jeder Herzschlag wird versteigert».

Ela zieht sich immer wieder hierher zurück, um etwas zur Ruhe zu kommen, sagt sie, während wir wieder in die grosse Werkhalle mit den weissen Styropor-Walen zurückkehren. Dort steht nun auch David Pflugi mit Mitarbeiter Mario auf dem Zwischenboden, auf dem sich auch eine Art improvisierte Lounge und die Bühne für Live-Musik befindet. Umgehend beruft er das etwas vorgezogene Pausenbier ein – normalerweise um 15 Uhr – und Ela, Mario, David und ich setzen uns in der Haupthalle an den grossen Tisch mit Pralinen, von denen Ela schon genascht hat und erst zu spät bemerkte, dass sie Alkohol enthalten, und einer grossen ungarischen Salami, deren Geruch mir immer wieder in die Nase ziehen wird.

David schnappt sich ein Amber, er trinke immer aus grossen Gläsern. Ich bestelle – logo! – ein Quöllfrisch. Ein reges Gespräch entwickelt sich und irgendwann machen sich Ela und Mario wieder an ihre Arbeit. Einer seiner beiden IT-Mitarbeiter fahre übrigens immer in voller Quöllfrisch-Velomontur von Basel hierher und zurück. Und tatsächlich: Kurz darauf trudelt der Besagte mit seinem Rennvelo ein – trotz Sauwetter quasi von Kopf bis Fuss in Quöllfrisch gehüllt. Vo une bis obe, wie David es ausdrückt. Hier der Beweis, seht selbst:
Ähm, wie bitte, was war das?! Zwei IT-Leute? Angestellt? – «Wir sind weltführend im digitalen Bereich. Alles, was ich mit dem Fusionismus mache, wird digitalisiert. Für ein Relief können dazu mehrere tausend Fotos nötig sein. Wir haben mehrere Programme selber geschrieben, mit denen wir die Fotos verarbeiten. Einmal war ein bekannter Professor für digitales Formen hier, der sagte, so etwas habe er noch nie gesehen. Wenn wir digital alles im Griff haben, kann ich jedes Werk in veränderter Form neu schaffen. Dazu braucht es fusionistisches Denken. Es ist über die Jahre alles zusammengewachsen. Ich kann die Sachen CNC fräsen lassen, digital 3D bemalen, 3D printen, eine digitale Skulptur schaffen. Mit der Digitalisierung habe ich vor zehn Jahren angefangen, nun sind wir gut aufgestellt.»
Vom Steinbildhauermeister zum Fusionisten
David «Dave» Pflugi wuchs im benachbarten Wahlen auf, wo er 1969 das Licht der Welt erblickt hat. Schon in der Schule habe er jeweils alles zuerst in 3D modelliert, bevor er es abgezeichnet habe, schildert er seinen Weg zur Kunst. Bei einem Besuch im Steinbruch habe er in den herumliegenden Steinen so viele Formen und Figuren gesehen, dass die Berufswahl schnell feststand. Es begann mit der Steinhauerlehre. Grabsteine und so. Schon im ersten Jahr habe er jeweils gesagt, gib mir diesen Auftrag, das kann ich. So unterzeichnete er schon vor dem Abschluss seinen Vertrag für die Steinbildhauerlehre, der die Meisterprüfung folgte. Der Einstieg in die Kunst begann mit der Reduzierung des Arbeitspensums. Als Grabsteinbildhauer verdiente er so gut, dass er am Schluss nur noch drei Morgen für die Bude gearbeitet habe. Und als er dann seine erstes Werk für 20′ 000 Franken verkaufen konnte, dachte er: Uh, das könnte was werden. Und machte weiter.

Drei Künstler beeinflussten ihn nachhaltig: M.C. Escher mit seiner Darstellung «perspektivischer Unmöglichkeiten», der Surrealist Salvador Dalí, dessen Museum im spanischen Figueres ihn nachhaltig beeindruckte, und Pablo Picasso, dessen Kubismus – der verschiedene Ansichten von Figuren und Objekten gleichzeitig zeigt – er zum multidimensionalen Fusionismus weiterentwickelte. Er habe Picassos kubistische Bilder immer räumlich gesehen. So kam er auf die Idee, ein Relief zu formen und links und rechts verschiedene Sujets zu malen. Die Bildhauerei hat sein räumliches Vorstellungsvermögen so geschult, dass er immer mehr Möglichkeiten erforschen konnte. Den entscheidenden Schub holte sich der leidenschaftliche Inter A- und später Erstliga-Fussballer aber mit dem ersten seiner Victory Works «Le rêve du football» anlässlich der Fussball-WM-Werk 1998; das war noch ein klassisches Bild mit 3D-Rahmen, auf dem alle Finalteilnehmer unterschrieben haben.

Davor hatte er an einem Turnier kleine Werke verkauft und den Erlös den Junioren des FC Laufen gespendet. Sein Trainer war davon begeistert und nahm in mit an ein Meeting des Schweizer Fussballverbands. So konnte er den Kontakt knüpfen und die leidenschaftliche Fusions-Fussball-Kunst-Reise begann. Und was mit einer Spende begann, soll mit einer Stiftung zur Förderung von Schulen und Bildung für Kinder und Jugendliche rund um den Globus gekrönt werden.

Es gab ja in der Musik mal den Fusion Jazz, der Jazz und Rock zu Jazzrock fusionierte. Einige, die mir grad einfallen: Miles Davis, Weather Report, Chick Corea, Billy Cobham, Mahavishnu Orchestra, Larry Coryell, Klaus Doldinger und viele andere. Gugusele ich deutsch «Fusionismus» stosse ich praktisch immer auf Dave oder David Pflugi und seine Kunst; im englischen existiert das Wort «fusionism» laut Wikipedia im Zusammenhang mit einer philosophisch-politischen Fusion von konservativen Positionen. Nun, da passt ja auch Pflugis Fusion von Horst Seehofer mit Angela Merkel – salopp gesagt – wie die Faust aufs Auge.
Das Runde wird zum Eckigen – schwarzweiss wird bunt
Je nach Blickwinkel eröffnen die Bildreliefs und Skulpturen unterschiedliche Farb-, Form- und Bildwelten. So fusionierte er beispielsweise die quasi unvereinbaren deutschen Politiker*innen Horst Seehofer und Angela Merkel in einem Relief. Man sieht aber immer nur Merkel oder Seehofer ganz. Je nach Standpunkt. Von uns aus gesehen ist Seehofer links bwz. rechts von ihm aus und Merkel rechts bzw. links von ihr aus. Bewegt man sich vor dem Relief, eröffnen sich weitere gemalte und geformte Details in den Faltungen. Die schwangere Frau habe er modelliert, bevor die uneheliche Tochter publik wurde, erklärt Dave.
Was aussieht, als würde es mittels 3D-Visualisierungen am Computer entwickelt, ist pures Vorstellungsvermögen gepaart mit virtuosem Bildhauerhandwerk. Das Fundament von Pflugis Arbeit ist analog. «Wenn ich ein Werk kreiere, kreiere ich immer mehrere Skulpturen. Ich habe im Kopf schon ganze Städte fusioniert.» Er mache nichts am Computer, schreibt nicht einmal E-Mails selbst. Mittlerweile kann David Pflugi wahrscheinlich fast im Schlaf die grössten und scheinbar unmöglichsten Gegensätze zusammenfusionieren, um daraus dann in Styropor die Grundform zu sägen, feilen, fräsen, brennen und raspeln. Dabei trägt er wegen der giftigen Dämpfe und dem Staub immer eine Gasmaske und hört Musik: «Wenn ich etwas rieche, ist es nicht gut.» Niki de Saint Phalle sei an solchen Dämpfen gestorben, weil sie nie eine Maske getragen habe.

Die Grundform wird rundum mit mehreren, immer wieder feingeschliffenen Schichten überzogen. Zwei Schichten werden von Hand aufgetragen, dann folgen mehrere Schichten im Spritzverfahren. Und natürlich muss immer wieder geschliffen werden. Fertig ist die Oberfläche superhart und widerstandsfähig. «Do chasch mitem Hammer drufhaue, im Fall», meint er. Ich mache es nicht, aber beim Klopfen fühlt es sich pickelhart an. Es gibt auch speziell gefertigte Outdoor-Objekte. In eines sei ein Auto hineingefahren: Auto zerbeult, Kratzer an der Skulptur nicht der Rede wert. Nun steht also das weisse Grundobjekt zur Bemalung bereit. Da ja die Zeit ein wichtiger Faktor ist, heisst es für alle im Team immer wieder mal einspringen bei den Grundierarbeiten – auch für die Büro- und IT-Mitarbeiter*innen. Sogar der Musiker muss ran.
Wie schon von Darm und Lunge bekannt, ist die gefaltete Fläche weit grösser als man beim schnellen Betrachten so denkt. Ausgebreitet bedeckt ein menschlicher Darm die Fläche von rund 400-500 Quadratmetern, die 300 Millionen Lungenbläschen bieten eine respiratorische Oberfläche von rund 100-140 Quadratmetern. Berechnungen für Pflugis Bildreliefs und Skulpturen existieren noch keine, aber es gibt ziemlich viel zu malen, ein Vielfaches von einer flachen Leinwand. «Würde man das Russische Werk als Fläche ausbreiten, wärst du total überrascht, wie gross es ist», so Dave.
Victory Works: Alle Unterschriften der Fussball-WM-Finalspieler seit 1998

Die Victory Works sind aber auf jeden Fall die Herzstücke von Pflugis Lebenswerk. Die Unterschriften als Schnappschuss der weltbesten Ballvirtuosen in einem der wichtigsten Momente in ihrem Leben fusionieren mit dem Kunstwerk, treten aus der Fussballwelt hinaus in die Welt des Fusionismus. Inzwischen haben die Victory Works denn auch jeglichen Rahmen gesprengt. Und manche Fussballer haben im Laufe der Zeit schon zweimal unterschrieben. Wie Didier Deschamps, der 1998 als Captain der Franzosen signierte und 2018 als Trainer. Es sind die einzigen Objekte auf der ganzen Welt, die alle Signaturen der Finalteilnehmer enthalten. Und – wen wunderts – immer grösser und komplexer sind die jeweiligen Werke geworden. So fusionierte Pflugi im vom Feuer zerstörten Werk «The Seeds of Victory» zum WM-Final 2014 in Brasilien ein Riesenbaby, die grosse Jesusstatue von Rio und einen Ball. Die Überreste des Brandes liegen noch in einem grossen Sarg, in dem Pflugi sie symbolisch performativ zu Grabe getragen hat. Phönix Pflugi entsteigt der Asche und macht weiter. Wie wir weiter oben gesehen haben, kauert das Riesenbaby schon wieder roh und unfertig in der Werkhalle.

Um die Victory Works auf die Reihe zu kriegen, muss er ziemlich viele Ebenen fusionieren. Das nimmt viel Zeit in Anspruch. Schon das Sammeln aller jeweils rund 50 Unterschriften der beiden Fifa-WM-Final-Mannschaften erfordert sowohl physische Präsenz vor Ort als auch logistische Präzision und feinfühlige Verhandlungstaktik. Da kommt ja nicht jeder rein, in die Hochsicherheitswelt der Fussball-Superstars. Und es steht schon wieder die nächste WM an: Katar 2022. Mitten im Winter. Natürlich entwickelt sich im Fusionistenkopf auch das Werk dazu: das grösste Buch der Welt soll es werden. Irgendwann sollen die Victory Works in Versteigerungen möglichst viel Geld einspielen für Bildungsförderung von Kindern und Jugendlichen rund um den Globus. Pflugi will in dieser Richtung etwas bewegen.

Man weiss nie, wer in den Final kommt, kann nicht alle Verbände im Voraus stressen. Erst im Halbfinal kontaktiert Pflugi die vier Verbände, um dann mit den zwei verbleibenden einen Unterschriftstermin auszumachen. An diese heranzukommen sei eine Hochsicherheitsgeschichte – wie zu Putin oder Biden zu kommen. Alles läuft ohne Fifa und wird vom Künstler selber bezahlt und organisiert. In Russland sei das alles sehr schwierig gewesen. Einmal seien die Sicherheitsleute wegen Pflugis Fotografen sehr nervös geworden. Wenn alle nervös sind, müsse man selbst die Nerven behalten. Nur so gehts. Natürlich hilft, dass bisher alle unterschrieben haben, aber es sei knallharte Arbeit. Das gehe, weil die WM nur alle vier Jahre stattfindet. Und wie schon angedeutet, ist nicht nur der Zeitaufwand ziemlich hoch, sondern auch der Preis, den Pflugi bezahlt: «Nach jeder WM war ich praktisch blank.»

Die Fusion Factory – ein Ort zum Arbeiten und Sein
Wer als Künstler Erfolg haben wolle, müsse eben auch Geschäftsmann sein. Pflugi muss das im Speziellen: Monatliche Löhne für die rund zehn Angestellten, Mieten für die riesigen Hallen, Versicherungen, Material – all das will bezahlt sein. «Ich habe 42 Atombomben zum Versteigern», konstatiert Dave grinsend. Mit Atombomben meint er natürlich die Victory Works. Seine grösste Kunst beim Ganzen sei es, die Unabhängigkeit vom Kunstmarkt bewahrt zu haben. Ein weiteres fusionistisches Element. Zudem sagt Dave, sein Glück sei, dass seine Arbeit auch sein Hobby sei. Was soviel heisst, wie: Ich arbeite an meiner Kunst, also bin ich.

Zurück zum Ferrari, den ich zu Beginn vor der Fusion Factory erwartet habe: Die letzten beiden Autos habe er gegen Kunst eingetauscht. In Anbetracht des steigenden Wertes seiner Kunstwerke, während die Autos ja nach fünf Jahren kaum noch Wert besitzen, sei das zwar ein schlechter Deal. Aber es sei irgendwie halt auch reizvoll. Zuerst habe er alle Angebote des Suzuki-Händlers ausgeschlagen, der unbedingt einen Pflugi habe besitzen wollen; aber Pflugi wollte keinen Suzuki. Dann sei er mit dem damals brandneuen Suzuki Kizashi gekommen. Nach einer Probefahrt nahm er ihn. Eigentlich sei die Zeit wieder reif für einen neuen Wagen.

Pflugi macht sich wieder an die Arbeit, stellt mit Mario zusammen einen der drei weissen Styropor-Rohlinge auf, malt auf der Leiter am Russlandwerk, gibt Anweisungen, wo welche Farben hinkommen, telefoniert. Immer in Bewegung, der gute Mann. Ich fotografiere noch eine Runde, entdecke unter einem Objekt mit Papst das Rennvelo des Quöllfrisch-Mitarbeiters und staune ob der verschiedenen Formen, die die Werke annehmen können. In der Ecke neben dem Russland-Werk bemalt eine Mitarbeiterin im Licht des Hellraumprojektors zwei Reliefs. Sie stammt aus der Mongolei. Eine andere kreuzt mal meinen Weg, zwei Mitarbeiter sind grad in den Ferien. Ein anderer liest Dave ein E-Mail-Antwort vor, die er beglaubigt. Selbst geht er ja nicht an den Computer. Jeder und jede scheint sehr gern hier zu sein. Es ist keine Diktatur und keine Sekte. Man spürt das gute Arbeitsklima, den offenen Umgang untereinander.

Als ich wieder in die grosse Halle zurückkomme, steht da Mario mit Roller und weisser Farbe auf der Leiter und übermalt ein Graffiti, die wohl noch aus den Zeiten stammt, als hier eine Autogarage war. Wir kommen ins Gespräch und er erzählt, dass er in der DDR aufgewachsen war und schon damals immer mit Musikern und Künstlern unterwegs war. Später habe sich der gelernte Dachdecker und Sanitär im legendären Studio Babelsberg einen Namen gemacht als Kulissenbauer. Rund 30 Angestellte arbeiteten für ihn. Der letzte Film, für den er die Bauten erstellte, war «Inglourious Basterds» von Quentin Tarrantino. Und fast hätte er einen Riesenauftrag eingefahren: Siebenjahresvertrag bei «Herr der Ringe». Das sei aber mit den New Yorker World Trade Center-Türmen eingestürzt. Und nun sei er hier in Daves Team. Und jetzt kommt er doch noch, der Ferrari: Er habe auf dem Filmgelände die irrsten Flitzer ausleihen können. Eben auch Ferraris. Jede Woche ein anderes Modell. Die Nachbarn hätten nur so gestaunt und sich gefragt, wie der wohl sein Geld verdiene.
Ich: Aber Mario ist schon nicht der typische DDR-Name.
Mario: Meine Mutter war Fan von einem Sänger namens Mario.
Immer am Samstag von 11-16 Uhr offenes Atelier
Wer die Fusion Factory selber live erleben will, kann das jeweils samstags von 11 – 16 Uhr ohne Voranmeldung an der Wahlenstrasse 81 in Laufen tun. Vor dem Besuch empfiehlt sich aber ein Blick auf davidpflugi.ch, um sicher zu sein, dass kein Event ansteht. Auch in der Weihnachtspause ist das Atelier geschlossen. Die genauen Daten bzw. Öffnungszeiten und aktuellen und vergangenen Aktivitäten von David Pflugi und seinem Fusionistenteam finden sich auf der Website. Oder natürlich auf allen digitalen Kanälen wie: