Quöllfrisch unterwegs bei den Pfahlbauern
Die Appenzeller*innen werden das wohl nicht so gerne hören: Nicht nur das Vollmond Bier wurde in Zürich erfunden, auch das älteste Bier Mitteleuropas stammt aus der Limmatstadt und – ok., nah dem Appenzell, aber ennet der heutigen Schweizergrenze – aus dem Bodensee.
Bier gilt mit rund 11 000 Jahren als eines der ältesten und weit verbreitetsten Getränke der Menschheit. Dazu zählt auch Bier im weitesten Sinne, wie es in einem frei zugänglichen Wissenschaftsartikel heisst: Bier im weitesten Sinne kann als nicht destilliertes alkoholisches Getränk charakterisiert werden, das aus einer stärkehaltigen Quelle hergestellt wird. Die Umwandlung von Stärke als Rohstoff in Alkohol als gewünschtes Endprodukt erfordert nur zwei Kernprozesse des Brauens: (1) Die Verzuckerung von Stärke zu Mono- und Oligosacchariden und (2) die alkoholische Gärung der entstehenden Zucker zu Ethanol. Eine so weit gefasste Definition umfasst so unterschiedliche Getränke wie südafrikanischen Kaffir, den Bili Bili im Tschad (Hirsebier), britischen Porter, süddeutsches Weissbier, belgisches Lambic und einige Arten peruanischer Chicha. Fast alle der oben genannten, wie auch die meisten anderen bekannten Biersorten basieren auf gemälztem Getreide, dessen wachsender Keim die für die Stärkeverzuckerung notwendigen Enzyme liefert. Dass der Hopfen erst später dazu kam, haben wir im Hopfentropfen-Beitrag Humpencurling, Rudelschnupf & Hopfenzapfen – Teil 3: Grünes Gold schon beschrieben.
Das Biergeschichtsbuch enthält aber noch viele weisse Seiten, von denen einige grad neu beschrieben wurden. Das im Moment älteste Bier Mitteleuropas zählt rund 5 000 Jahre und wurde mit einer neuen Methode in archäologischen Funden vom Bodensee und in Zürich nachgewiesen. Die Archäologie verbindet das Getränk nicht nur mit den Anfängen der Landwirtschaft, sondern auch mit komplexen sozialen Bindungen und Schichtungen im Allgemeinen sowie mit der Bildung sozialer Eliten.
Whistleblower Malz
Was aussieht wie ein Stück verkohltes Brot oder ein Stück Mondstein, hat sich nun scheinbar zweifelsfrei als Bier entpuppt. Wer nur glaubt, was er sieht, käme also nie drauf. Fündige Wissenschaftler haben eine neue Methode entwickelt, die auch aus verkohlten, gemahlenen und anderweitig entstellten Essensresten, gemälzte Gerste aufgrund des Zellwandabbaus während der Keimung zu erkennen. Es sei allgemein anerkannt, dass grosse Mengen gleichmässig gewachsener Körner als das Ergebnis einer absichtlichen Vermälzung angesehen werden können. Sie werden daher als Indikatoren für die Bierherstellung interpretiert.

Original-Bildlegende aus dem oben erwähnten wissenschaftlichen Artikel: Verkohltes Getreideprodukt aus der Zürich-Parkhaus Opéra. Gefundene Nr. ZHOPE 12162.1A / AOV 85. Oben: helles Schliffbild, unten: REM-Aufnahme, Bruch durch die äusseren Karyopsenschichten. Die mehrfachen Aleuronschichten (A1-A2) identifizieren das Material als Kulturgerste (Hordeum vulgare) und zeigen auffällige Zellzwischenräume (*). SE… stärkehaltiges Endosperm (verschmolzene Überreste), N… Nucellusgewebe. Abbildungen: UNIBAS-IPNA / F. Antolín.
Dass man sich mit dem sogenannten Aleuronzellwandabbau erst jetzt beschäftige, liege vermutlich an der mangelnden Praxis-Relevanz im modernen Brauwesen. Darum sei wohl auch die Archäologie nie drauf gekommen. In Ägypten konnten bereits an drei Standorten – Abydos, Hierakonpolis und Tell el-Farkha – Erkenntnisse über das prädynastische Brauen gewonnen werden. Bei Ausgrabungen an allen drei Stätten wurden Anlagen freigelegt, die möglicherweise mit dem Brauen in Verbindung stehen und bei denen es um den tatsächlichen Inhalt von Braubehältern geht.
Mittels Vergleich von experimentell verkohlten Malzkörnern mit nachgewiesenen Bierfunden aus dem alten Ägypten sowie den Funden aus mitteleuropäischen Seeufersiedlungen des Spätneolithikums (4. Jahrtausend v. Chr.) am Bodensee (Südwestdeutschland) und am Zürichsee (Schweiz) – die zuvor nicht mit spezifischen kulinarischen Praktiken wie Brauaktivitäten und/oder Teigzubereitung in Verbindung gebracht worden waren – konnte die neue Methode zum Nachweis von gemälzten Lebensmitteln abgesichert werden.
Fundort Zürich-Parkhaus Opéra
Der mit Valser Quarzit bedeckte Sechseläutenplatz über der Fundstelle Zürich-Parkhaus Opéra lässt keine weiteren Funde aus der spätneolithischen Seeufersiedlung mehr zu. Sie sei übrigens im Wasser gestanden. Die Siedlungsreste liessen auf sieben sehr kurzlebige Besiedlungsphasen schliessen. Unser Bierobjekt wurde auf ca. 3090 v. Chr. datiert. Gerne würde ich den unappetitlichen Bierbrocken mal live sehen. Er befinde sich zur Zeit nicht in Zürich, erfahre ich auf Nachfrage bei der Kantonsarchäologie.
So ganz wissenschaftlich abgesichert sind die Bierbefunde denn anscheinend doch wieder nicht. So relativieren die Forscher*innen in den Schlussfolgerungen des oben erwähnten und verlinkten wissenschaftlichen Artikels (aus dem übrigens alle hier schräg angeführten Zitate stammen), die malzhaltigen amorphen Krusten aus der Grabung Zürich-Parkhaus Opéra seien entweder aus flüssigen oder festen Lebensmitteln, wobei ein Bestandteil davon Malz war. Die Fundsituationen im Inneren von Kochkesseln bestätigen jedoch tendenziell die Hypothese von flüssigen Lebensmitteln. Die Biergeschichte der Zukunft ist also noch lange nicht in – einst flüssigen – Stein gemeisselt.
Aber frisches und vor allem auch gehopftes Flüssiggold aus Appenzell ist mir als in Zürich lebender Appenzeller sowieso lieber als ein noch so grosser Haufen verkohlter Lebensmittel mit 5000jährigem Ablaufdatum. Interessant ist es alleweil. Drum: