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Choge schöni Wüeschti am Freitag, dem 13ten 2023

Quöllfrisch unterwegs am Alten Silvester in Waldstatt AR

Eigentlich verrückt: Im Appenzeller Vorderland aufgewachsen, habe ich bis zum Freitag, dem 13ten 2023, nie einen echten Silvesterchlaus gesehen. Eindrücke vom alten Silvester im vollkommen schneefreien Waldstatt AR.

Man is least himself when he talks in his own person.

Give him a mask, and he will tell you the truth.*

Oscar Wilde: The Critic as Artist , Part II (1891)

*Der Mensch ist am wenigsten er selbst, wenn er für sich selbst spricht. Gib ihm eine Maske, und er wird dir die Wahrheit sagen.

Freitag, der 13te! Eigentlich sollte ich da nicht aus dem Haus, denn es könnte mir ja schon so früh im Jahr und frühmorgens ein Ziegel oder gar der ganze Himmel auf den Kopf fallen. Die Wissenschaft sagt zwar, es sei nichts dran an dem ganzen Aberglauben, aber woher kommt es dann, dass er – wie so viele Hartnäckigkeiten – in unserer angeblich so aufgeklärt modernen Zeit nicht aus der Welt ist? Ok., man muss ja nicht grad den Teufel an die Wald malen, der steckt ja bekanntlich sowieso im Detail. Aber schon kleine, unscheinbare Dinge können schief laufen, was nicht so schlimm ist, aber eben nervt. Wenigstens kenne ich dann den Schuldigen, ebe: Freitag, der 13te. Das beruhigt doch schon mal unheimlich. Also, Aufbruch!

Es ist noch zappenduster, als ich aus dem Haus trete. Und es regnet ordliche Mengen. In der Hoffnung, dass es in Waldstatt winterlich schneit – der Bahnhof liegt 814 m ü.M. –, lasse ich den Schirm zuhause. Natürlich schneit es dann nicht, sondern das in den letzten Jahren üblich gewordene, dauerveränderliche Ganzjahresaprilwetter zeigt seine Winterversion mit abwechselndem Regen, Sonne und einem bissig arschkalten Wind, der mit der Zeit bis in die Knochen vordringt. Schnee gibts nur im Alpstein und auf einigen kunstvollen Hutwerken der Silvesterchläuse.

Viel mehr Schnee als auf diesem kunstvollen Hutwerk gibts an diesem Altsilvestertag nur in naher Ferne.

Laut Meteo Schweiz war 2022 hierzulande das wärmste und sonnigste Jahr seit Messbeginn. Inzwischen sind Schnee und Kälte zwar da – mit der Schreibverzögerung ist auf Anfang Februar richtig viel des raren Weisses angekündigt –, aber (TA, 21.1.23): «Wochenlang war es deutlich zu warm für die Jahreszeit», sagt Manuel Peterhans, der als Revierförster in Küsnacht arbeitet. Der Waldboden sei deshalb aktuell so nass und weich, dass man ihn nicht mit schweren Geräten wie etwa einem Holzvollernter befahren könne. Daran würden auch die aktuell wieder kälteren Temperaturen nichts ändern. «Damit der Boden durchfriert, müsste es während 14 Tagen richtig kalt sein.» Und richtig kalt ist meistens vor allem der Wind, der ebenfalls öfters bläst als früher.

Vorbei an den letzten Christbäumen auf dem Trottoir (mich erstaunt jedes Jahr erneut, wenn sie am Strassenrand rumliegen: diese Menge!) und elektronischen Plakaten, die sau- bis aalglatt für «Veganuary» und superweisse Ski-Abenteuer werben, mache ich mich auf nach Waldstatt AR zu dieser Weltpremiere auf meinem doch schon fortgeschrittenen Lebensweg. Das weltberühmte Silvesterchlausen am Alten Silvester wird übrigens im gesamten Hinterland betrieben, also auch in den Gemeinden Urnäsch, Schwellbrunn, Schönengrund, Herisau, Hund­wil und Stein.

An der Bushaltestelle Zürich, Signaustrasse wartet neben mir nur eine einsame Quöllfrisch-Büchse auf den Wurf in den Abfallkübel. Hm, gutes Omen oder schon fast eine schwarze Katze von links? Wisch und weg, da rauscht der Bus 31 zum HB an.

Postkartengrüsse aus der globalen Schnee-Illusionsmaschine

In der Bahnhofshalle im HB Zürich arbeiten der dickfüdlige Nana-Engel und die Vögel des philosophischen Fibonacci-Eis auf Hochtouren, rund um die Uhr, während unter ihnen – nach den Christchindlimarkt-Hütten (hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag «Der schlaue Fuchs güügelet vor dem Güggeli ein Glühbierchen auf der Terrasse des Güggeli-Sternens») – nun ein rechtwinklig angeordnetes Berghüttendorf namens «Winter-Arena» ohne Schnee einen nicht vorhandenen Winter simuliert. Fehlt eigentlich nur noch die künstliche Beschneiung mit echten Schneekristallen aus der alterwürdigen Stahlkonstruktions-Hallendecke.

Die Winter-Arena im HB Zürich vor dem grossen Ansturm.

Alles schläft noch menschenleer vor sich hin. Auch hier begleiten mich schneestrotzende Wintertourismusplakate bis aufs Perron und beweisen die Wahrheit meiner berühmten Binsenweisheit, dass das Leben in Wirklichkeit kein Hochglanzprospekt ist. Denn die Plakate suggerieren Schnee wie seinerzeit, als es den auch wirklich noch gab und die Schweizer Skirennfahrer*innen als Strassenfeger fungierten: Auf den wenigen Sendern in Radio und Fernsehen übertragen, fieberte gefühlt die ganze Schweiz mit den Wahnsinnigen mit, die sich da mit zwei immer ausgeklügelteren High Tech-Brettern an den Füssen im Kampf um Sekundenbruchteile den Hang hinunter stürzten. Das waren noch Zeiten! Und besser waren sie jedenfalls hinsichtlich der Schneemengen, die ja seinerzeit auch nicht überall wirklich erwünscht waren.

Jetzt, wo wir in kürzester Zeit, in kunterbunten Hightech-Plastik gekleidete Massen – wohlverstanden: nachhaltig – auf die Gipfel transportieren können, fehlt zunehmend die weisse Grundlage, auf die man mit riesigen Investitionen gesetzt hat und immer noch setzt. Statt auf kristallinem Wasser wird die Zukunft des hiesigen Schneesports möglicherweise auf Sand gebaut sein. Denn angesichts der schnee- und wohl auch humorlosen Hüttenromantik fällt mir ironischerweise nichts besseres ein als «Ski Dubai, das erste Indoor-Skigebiet im Nahen Osten, für das ultimative Indoor-Wintersporterlebnis» und «Der Snow Theme Park in Katar bietet alles, was Sie brauchen, um eine faszinierende Zeit in unserer kühlen Atmosphäre mit Temperaturen von bis zu -4°C zu verbringen.», wo man unter vielem anderen bis zu 400 Meter runterrutschen kann – in Dubai sogar auf der ersten Indoorpiste mit Schwierigkeitsstufe Schwarz. Und auch von Olymischen Winterspielen in desertösen Schneesporthallen wird schon gedunkelmunkelt.

Flashback: Skilift Heiden AR gestern und heute

Unser 1964 gebauter Skilift in Heiden – inzwischen Schneesportgebiet Bischofsberg genannt – war zwar auch nur dreimal länger: Schräge Länge: 612 m, Höhe Talstation: 813 m ü. M., Höhe Bergstation: 923 m ü. M., Höhendifferenz: 110 m. Die Mitschüler*innen, die skifahrkönnerisch etwas auf sich hielten, kurvten, wenn sie konnten, an den längeren und steileren Liften in Eggersriet oder Oberegg herum. Aber immerhin kam man ohne Schneekanonen und Kunsthügel aus. Es hatte einfach im Winter meistens Schnee; manchmal putzte der Föhn zwischenzeitlich alles weg, aber Frau Holle schüttelte zuverlässig wieder ihre Kissen aus und bedeckte die sanfthügelige Landschaft mit dickweissen Naturflocken. Inzwischen wird auch in Hääde ab September künstlich Schnee produziert – nachhaltig, ist zu vermuten: Schneeproduktion bereits im September mit der Snowfactory. Nach der Produktion wird der Schnee sofort Coverice-Vliesbahnen bis zum definitiven Gebrauch im Oktober abgedeckt.

Es gebe Skigebietbetreiber, die keinen Naturschnee auf den Pisten wünschen

Wer denkt dabei heute schon an Natur und an Artenvielfalt, wenns darum geht sie sporttreibend zu geniessen. Ich prophezeie seit geraumer Zeit, dass man in unseren Skigebieten bald schon – natürlich: nachhaltige! – Kühlaggregate im Boden verlegt, damit der aus den Mittelklassewagen-teuren Schneekanonen abgefeuerte Kunstschnee dann möglichst früh im Jahr schon hält. Who knows, der Menschen Wege sind unergründlich. Dass das mit dem Kühlaggregat im Boden wahrscheinlich kein Witz bleibt, lässt sich jedenfalls aus den folgenden Passagen eines Artikels in der NZZ vom 21. 1. 2023 vermuten:

Im ganzen Alpenraum stehen Zehntausende Schneekanonen, die Schätzungen gehen weit auseinander, von 30 000 bis 80 000. Klar aber ist: Es werden immer mehr. In der Schweiz wurde vor dreissig Jahren ein Prozent der Pisten beschneit. Heute sind es 54 Prozent, 121 Quadratkilometer, eine Fläche dreimal so gross wie der Kanton Basel-Stadt. Das heisst: Wir fahren schon die meiste Zeit auf Kunstschnee Ski und Snowboard – auch dann, wenn es eigentlich schneit – aber wir merken es erst, wenn rechts und links kein Naturschnee liegt und sich nur ein trauriger weisser Streifen einen grün-braunen Hang an den Schneekanonen vorbei hinunterschlängelt.

Nun kommen wir zum gigantischen – selbstvertürli: nachhaltigen – Versorgungssystem («wie in einer Kleinstadt»), das im Berg des Skigebiets Flims-Laax-Falera verbaut wurde: Es gibt elf Pumpstationen, zwei künstliche Seen, mehrere Ausgleichsbecken der Elektrizitätswerke und 80 Kilometer Leitungen, die unter der Erde liegen und Wasser, Strom und Pressluft zu den Schneemaschinen bringen. Man muss sich das System vorstellen wie einen Körper: Die Pumpstation ist das Herz, die Leitungen sind die Arme und die Kanonen die Finger. Das Wichtigste aber ist das Blut, ohne Blut ist der Körper tot. In einem Winter fliessen in Laax 500 Millionen Liter Wasser durch die Rohre und werden zu Schnee. Das sind drei Millionen volle Badewannen. – I’m a snowgunslinger, honey!

Alter Silvester, Freitag, der 13te 2023, Waldstatt.

Ebe: Die Schweiz, ja, der gesamte Alpenraum ist ein riesiger, von Menschen eingerichteter und gepflegter Naturpark – von denen es ja auch immer mehr nur so wimmelt – und wir sind ein Teil davon. Wenn die Natur nicht mitmacht, erfinden wir sie mit ausgeklügelter (und logo: nachhaltiger und energiesparender und umweltschonender und und und) Technik einfach neu. Koste es, was es wolle. Bei der wasser- und energieintensiven Beschneiung gehe es weniger um den Schnee als um die Kapazität der Pisten, da ja mit den modernen Bahnen immer mehr Menschen auf den Berg gehievt werden, die auch wieder runterfahren. Das müssen die Pisten erst mal aushalten. Erst durch die Beschneiung mit dem dichteren technischen Schnee sei das moderne Massen-Skibusiness überhaupt möglich geworden. Es gebe inzwischen sogar Skigebietsbetreiber, die den Naturschnee nur neben den Pisten wollten. Tja, die Zeiten ändern sich. Mal schauen, was sich beim Silvesterchlausen über die Zeit so getan hat.

Einen kleinen Moment noch! Breaking News im Tagi vom 23. Jänner 23 zur Schneelage: Die Schweiz ohne Schnee? Unvorstellbar. Aber, wohl schon schneller Realität, als uns lieb ist. Lange Messreihen zeigen, dass es in den vergangenen 30 Jahren im Winter in der Schweiz je nach Ort und Lage bis zu 64 Prozent weniger Schneetage pro Saison gab als noch von 1963 bis 1992. «Diese Entwicklung ist bedenklich», sagt Klimaforscher Christoph Marty vom Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF), von welchem auch die Daten stammen. «Historische Aufzeichnungen der letzten 500 Jahre zeigen, dass es im Schweizer Mittelland noch nie eine so geringe Schneebedeckung gegeben hat wie in den letzten Dekaden», so Marty weiter. – Der Spiegel schreibt Schneesport für alle gar schon ab und wittert darin ein weiteres exklusives und elitäres Zukunftspläsierchen der Superreichen.

Hört doch jetzt mal auf, mit eurer Kohlenrabenschwarzmalerei! Nehmen wirs ein bisschen locker. Das Leben ist bunt. Jede*r soll nach seiner Façon selig werden. Die grünen Winterwiesen sind der Beweis, dass Greenwashing weltweit bestens funktioniert, oder? Sogar Mega-Yachten (ab 30 Metern Länge; die Azzam des im Mai 2022 verstorbenen Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate Scheich Chalifa bin Zayed Al Nahyan sei mit 180 Metern, sieben Decks, 520 Quadratmetersaal, Hubschrauberlandeplatz und Raketenabwehrsystem (!) aktuell die längste Privatyacht der Welt) der erwähnten Superreichen werden uns – also denen, die sichs leisten können – inzwischen als ökologisch nachhaltig verkauft, obwohl sie sowieso von so allen Restriktionen ausgenommen und in praktisch jeder Hinsicht alles andere sind. Ist doch alles pipifax.

Im Wandel der Zeit von Weihnachten auf Silvester verschoben

Nun tuckere ich, der Zürcher Ausserrhödler, also im angenehm leeren Zug durch die nassschwarze Winternacht nach Waldstatt im Appenzeller Hinterland (1800 Einwohner*innen. 822 m ü.M. / Höhenbereich 666-967 m ü.M.) inmitten sanfter grüner Hügel. Auch im Gemeindewappen ist es Nacht, ewige sogar, denn es gibt davon keine Tagesversion: Es zeigt vier Tannen und eine Kirche mit Zwiebelturmdach auf Grün vor schwarzem Grund, das von einem schwarzen Bären mit roter Zunge und ebensolchem Pfifeli gehalten wird. (Hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag «Bier, Bär & Dibischnäbi».)

Der Wappenhalter-Bär ist Teil des grossen Wappens von Waldstatt.

Der Bär fällt weg, sobald nur das Wappen gebraucht wird. Waldstatt sei übrigens die einzige Gemeinde im Kanton, die an keinen andern Kanton Grenze. In einem früheren Beitrag habe ichs schon erklärt: Der Kanton Appenzell ist der Fünfliber im Chuehflade, wird gänzlich vom Kanton St. Gallen eingefasst. (Hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag «Der Hochstammhimmel hängt voller Bschorle»). Und die einzige Gemeinde auch, die schon als die Kirche noch nicht im Dorf war, sprich: vor dem Bau der Kirche zur Selbständigkeit kam, als sie sich 1720 von Herisau löste. Sie ist noch immer im Dorf, wie ich sehe. Allerdings ohne Zwiebelturm, den es wahrscheinlich gar nie gab, wie mir scheint.

Sicht auf das Dorf in der Nähe des Chlausebeizli Bösch.

Wie gesagt, die Chläuse kenne ich nur von Bildern und Geschichten, habe sie noch nie live erlebt. Gschämig, eigetli. Ich bin gespannt, was ich antreffen werde. Ebe, Freitag, der 13te: Vielleicht latsche ich an allen vorbei, weil immer zur richtigen Zeit am falschen Ort. Angesichts der touristischen Vermarktung nehme ich aber schon an, dass ich nicht bis zu den entferntesten Höfen der Appenzeller Streusiedlung wandern muss, um dann zufällig einem schellenden und zäuerlnden Schuppel von Wüeschte, Schöne oder Schö-Wüeschte auf ihrer Route, dem Schtrech, zu begegnen.

In der aufgezählten Reihenfolge seien diese übrigens ins Spiel gekommen: Am Anfang – der erste schriftliche Beleg ist ein Sittenmandat der reformierten Kirche von 1663, das das St. Niclaussen an Weihnachten «mit Herumblauffen, Polderen und Schellen» in der Nacht verbietet – gab es nur die Wüeschte (Naturchläuse), die aussehen wie heidnische Naturgeister. Die reformierte Kirche habe damals gerade den Geschenke bringenden Samichlaus durch das Christkindli ersetzt, darum passte ihr der lärmige Brauch gar nicht in den Kram. Oha, der Samichlaus heisst ja mittlerweilen auch Weihnachtsmann und kommt mit Rentier statt Esel und Schmutzli! Wenn überhaupt. Und Allerheiligen wird von Halloween verdrängt. Das Holzbrett vor dem Kopf leuchtet mittlerweile und nennt sich Smartphone. Was kommt da noch alles?

Ein Schuppel Wüeschti beim Schellen.

Die Verschiebung in die Zeit nach Weihnachten sei bezüglich der Kostüme mit der Entfernung vom Bild des Heiligen Nikolaus einhergegangen und habe zu archaischeren Kostümen geführt. So die Vermutung. Geblieben ist die Bezeichnung Chlausen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war der Brauch endgültig zum das alte Jahr vertreibenden, das neue begrüssenden Silvesterbrauch geworden, also für die Kirche unproblematisch. Zu der Zeit – also nach rund 300 Jahren! – akzeptierten die widerspenstigen Appenzeller auch erst den 1582 von Papst Gregor XIII. verordneten und weltweit meistgebrauchten Kalender mit der Folge, dass man nun gleich zweimal Silvesterchlausen kann: am 31. Dezember des alten und am 13. Januar des neuen Jahres. Figgi und Mühli, also. De Föfe ond s Weggli. Diese gfitzten Choge. Alles andere als:

Zeh Joh Bommschuel – ond hüt no en Pfohl.

Ein Schuppel Schöni beim Zäuerlen am Zaun.

Die Schöne gebe es seit Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Pflege der Schweizer Volksbräuche einen Aufschwung erlebte. Die Schö-Wüeschte kamen erst 1960 ins Spiel. Deren Gewänder bestehen aus Naturmalien wie die der Wüeschte, sind aber in Form der Schöne gestaltet. Von ihnen treffe ich an diesem Silvester kein Schuppel an.

Wikipedia beantwortet die Frage, warum Innerrhoden kein Chlausen mehr zelebriert: Im Kanton Appenzell Innerrhoden  wurde das Chlausen laut dem Mandantenbuch von 1776 bis 1808 mit fünf Talern Busse bestraft. Dies führte dazu, dass der Brauch nur im Kanton Appenzell Ausserrhoden erhalten blieb. Dennoch wurde das Chlausen auch in Innerrhoden bis um das Jahr 1900 in kleinem Rahmen mehr oder weniger «versteckt» oder von der jeweiligen Bezirksobrigkeit «stillschweigend toleriert» gepflegt.

Das fehlende Dorfzentrum, die Verkehrsachse

Als ich am Bahnhof Waldstatt – als einziger Passagier – aus der Appenzeller Bahn steige, ist noch füdlenichts los. Inzwischen ist es fast Tag. Weit und breit weder Chläuse noch Touristen. Ich vermute, dass das grössere Urnäsch fürs Chlausen berühmter ist, kann es aber nicht beschwören. Auf den ausgeschilderten Holzweg lasse ich mich heute sicher nicht führen, auch Panoramaweg und Emma Kunz Pfad können mir gestohlen bleiben. Eigentlich wäre auch mein mir fast unbekannter Bürgerort Schönengrund als Chlausen-Destination möglich gewesen. Ein andermal.

Holzweg, Panoramaweg, ich mache mich auf den Chlausenweg Richtung Geisshaldenstrasse. Nach meinem Bürgerort Schönengrund wärens satte 2h 15min.

Ich folge meinem Instinkt bergaufwärts, wo – wie so oft – eine happige, sprich: vielbefahrene Strasse das Dorf fadengrad durchschneidet. Kein Dorfplatz, an dem man sich trifft und miteinander palavert, nichts dergleichen. Sogar das 1979 eröffnete Mehrzweckgebäude, in dem sich die Festgemeinde ab 16 Uhr trifft, liegt voll am Teerteppich für unsere vierrädrigen Freunde. Und sofort stechen auch diverse «Zu verkaufen»-Schilder ins Auge. «Wer will schon an einer solchen Durchgangsstrasse leben – auf dem Land!», denkt sich gar der zum Städter mutierte Häädler.

Aha, Wikipedia klärt auf: Die Verlegung der wichtigen Verbindungsstrasse von St. Gallen ins Toggenburg durch Waldstatt statt über Schwellbrunn 1789 gab wichtige Entwicklungsimpulse, und der Weiler entwickelte sich in der Folge zum Dorf. Das Dorf wuchs zuerst entlang der Hauptverkehrsachsen, nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich ruhigere Wohnquartiere ausserhalb entwickelt. – Es gibt sie also schon, die wohnlicheren Ecken. Aber ebe: Sicher nicht an einer solchen Autobahn.

Wo ist nur der schöne alte Dorfplatz geblieben.

Als Witz gedacht, genügt das Stichwort Autobahn und das UVEK beamt uns mit dem Netzbeschluss auf Anfang 2014 rasend schnell in die geteerte Vergangenheit: Bedeutung der Übernahme durch den Bund. Als Strassen von nationaler Bedeutung werden die Strecken künftig höheren Standards in Bezug auf die Verfügbarkeit, die Verträglichkeit und die Sicherheit genügen. Beispielsweise werden höhere Anforderungen an den Winterdienst oder an den Schutz vor Naturgefahren gestellt. Wo es die Sicherheit erfordert, werden separate Anlagen für Radfahrer und Fussgänger geschaffen. Von der besseren Verfügbarkeit und den höheren Ausbaustandards profitieren alle – die Bevölkerung vor Ort, Klein- und Grossbetriebe sowie die Automobilistinnen und Automobilisten. Bedeutung für den Kanton Appenzell Ausserrhoden. Heute liegen im Kanton Appenzell Ausserrhoden keine Nationalstrassen. Nach der Anpassung des Netzbeschlusses werden es 11,2 Kilometer sein. Es handelt sich dabei um Nationalstrassen 3. Klasse (mit Mischverkehr). Betroffen ist folgender Abschnitt: Kantonsgrenze SG – Waldstatt – Kantonsgrenze AI des Abschnitts St. Gallen – Herisau – Appenzell mit 11,2 Kilometern Länge. Diese Strecke bindet den Kantonshauptort über Nationalstrassen an die grossstädtische Agglomeration St. Gallen an. – Dass davon wie versprochen alle profitieren war vielleicht etwas vollmundig posaunt. Das Dorf im Wandel der Zeit.

Liegt sicher nicht am eher raren Appenzeller Bier-Schild der Gädeli-Bar: Nicht nur dieses Haus an der Strasse ist zu verkaufen.

Die verkehrstechnische Anbindung an die grösseren Orte der Region verwandeln viele Dörfer zu sogenannten Schlafdörfern, in denen Metzger, Beizen und irgendwann auch die Bäckereien den Bettel hinschmeissen. Obwohl: Bis jetzt gibts in Waldstatt noch alles. Sogar eine «richtige» Post (und eine Filiale im Blumenladen). Ich habe mal mit einem Claim mitgeholfen, eine Poststelle in der Innerschweiz zu erhalten und stelle ihn hier zur freien Verfügung: Schluss mit dem Poststellenraub! Aber eben: Meistens ist nichts mehr auszurichten, die gspässige Entwicklung nimmt ihren Lauf.

Der vielen Worte tiefer Sinn: Es ist mir seit langem unverständlich, dass Gemeinden nicht an einem ruhigen, also mehr oder weniger verkehrsfreien Zentrum mit Gaststube festhalten, wo sich die unterschiedlichsten Menschen treffen – im Sommer im angenehm kühlen Schatten der grossen alten, gegen alle Fällversuche verteidigten Dorflinde, beim Plätschern des von mir aus auch neuzeitlich gestalteten, friedlich plätschernden Dorfbrunnens. Oder so. Vorbei. Nur im mittlerweile weltberühmten Appenzeller Brauchtum lebt diese Tradition des idyllischen Dorf- und Landlebens fort. Scheinbar. Wir kommen darauf zurück im Kapitel «Intermezzo: Tradition & Zeitenwandel».

Jä, weles jetzt?

Es ist bei all den Verkaufsschildern nicht ganz klar, ob die Restaurants, an denen ich vorbeikomme, überhaupt noch betrieben werden. Relativ wenige Beizen sind jedenfalls mit einem Appenzeller Bier-Schild ausgestattet. Und ich erinnere mich, dass es früher in Heiden eigentlich überhaupt kein Appenzeller Bier gab. Das kam ja aus dem katholischen Innerrhoden. Und wir waren doch reformierte Ausserrhödler. Logisch. Beide Halbkantönligeister monierten den «echten Appizöller, frisst den Chäs mitsamt em Teller» für sich. Erstaunlicherweise wurde aber St. Galler Schützengarten, das noch unabhängige Winterthurer Haldengut oder Schaffhauser Falken Bier ausgeschenkt. Bis heute scheint also der appenzellische Biergraben nicht vollends überwunden. Allerhöchste Zeit, diesen alten Zopf abzuschneiden und das Lokalfeine zu pflegen.( Hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag «So kommt der Vollmond in die Flasche».)

Ab 16 Uhr wird in der Mehrzweckhalle weiter gefeiert.

Das Chlausebeizli Bösch schaut mit Frohsinn, Verstand und Appenzeller Bier-Banner ins Land

Die auffälligen blauen Toi-Toi-Plastik-WCs und einige Fahrverbot-Tafeln mit Abschrankungen weisen drauf hin, dass man später noch einiges an Publikum erwartet, obwohl ich nur wenigen Leuten begegne. Man grüsst sich höfli. Schon stehe ich vor dem nur für heute angebrachten Wegweiser zum Chlausebeizli Bösch. Mit Parkplatz, im Fall. Und Appenzeller Bier. Alles Indizien auf Chläuse. Von Weitem trägt der Wind immer wieder eine paar ferne Schellenfetzen heran. Da oben müssen also ein paar Schuppel, so heissen die verschiedenen Chlausgrüpplein – rumtrolen. Ab die Poscht!

Festbetrieb ab 9 Uhr. Ich bin zu früh unterwegs.
Es Appezeller Beizli het Frohsinn ond Verstand…
Stand um 11 Uhr: Am Schärme sind die Tische relativ schnell voll besetzt. Im hinteren Teil zäuerlt ein Schuppel.
Kurz nach Mittag: En Schöne wünscht dem Ehepaar Lea und Markus Bösch es guets Neuis.

Zwei weitere Silvester-Beizli

Vor dem grossen Ansturm: Silvesterbeizli Manser mit Appenzeller Bschorle und Spezli. Hier halten später dei Wüeschte Einkehr.
Hier genehmige ich mir trotz Kälte einen wärmenden Appenzeller Brandlöscher.

Traditionen leben nur dank strotzgsonder Wandlungsfähigkeit

Und siehe: Vor einer Garage mit Terrasse, auf der immer wieder ein Schäferhund gegen das laute Schellen anbellt, zäuerlet ein Schuppel Schöni. Vor allem, wenn die Schellen Guzzi geben, tut der Hund das auch. In und vor der mit Bierbänken und -tischen bestückten Garage bilden Hausbewohner*innen und Zuschauer*innen einen lockeren Chreis und lauschen, dem wortlosen Naturjodel, dem Zäuerlen.

Weltpremiere: Das erste Schuppel meines Lebens im grünen Winter 2023.

Masken und Kostüme sind immer faszinierend. So auch im Lied, wenn Billie Holiday herzzerreissend singt: «The masquerade is over.» Noch ist es nicht so weit, die wunderbare, laut schellende und naturjodelnde Maskerade hat grad erst begonnen. Auf appenzellerland.ch heisst es: Vom frühen Morgen an sind die Silvesterchläuse unterwegs, ziehen von Haus zu Haus und wünschen mit andächtigem Gesang und lüpfigen Zäuerli allen «es guets Neus». Am Abend sind sie bis Mitternacht in den Wirtschaften unterwegs. Dass das Chlausen eine reine Männerangelegenheit ist, wird mit dem stolzen Gewicht von bis zu 30-40 Kilo des Kostüms und der Schellen begründet.

Weltpremiere: Die ersten Wüeschte meines Lebens.

Ich kann mir gut vorstellen, dass nach so einem Silvester auch der Stärkste körperlich ein paar Tage lang nudelfertig ist, da die doch beachtlichen Wege in einer Mischung aus Trab und Tanz zurückgelegt werden. Ganz zu schweigen vom Geschell, das wohl noch tagelang im Kopf weiter dröhnt und vibriert. Ob wohl der Ausdruck «Es hät mi verschellet» etwas mit dem Silvesterchlausen an der Haube hat?

Den ganzen Morgen flaniere ich im Wohnquartier gelassen rauf und runter, lande mal in einer Sackgasse, sehe und höre ein Schuppel weit hinten beim Parkplatz Richtung Schönengrund und treffe immer wieder auf ein Schuppel von sechs bis acht Chläusen. Mit der Zeit nimmt das Publikum merklich zu, verteilt sich aber gut. Weil die Schuppel immer wieder davonlaufen, sie sind wirklich im Laufschritt unterwegs, manchmal gehts auch nur über die Strasse zum nächsten Haus, bleiben auch wir Zuschauer immer in Bewegung. Es ist ein bewegender Brauch an der – heute leider etwas zu – frischen Luft mit wechselnden Schauplätzen.

Das wahre Ich und die Maske

Während ich diesen Beitrag schreibe – tut mir leid, war viel los, es kam immer anders, als ich wollte, auch digishit-technisch, drum hats etwas gedauert, ist aber auch zeitlos und Slow Living-mässig konzipiert, der Quöllfrisch unterwegs-Blog – sind die aufwändig in vielen Stunden gefertigten Ganzkörper-Verkleidungen (Groscht) längst von der grossen Freiluftbühne des Ausserrhoder Hinterlandes verschwunden, die Schuppel-Mitglieder zurück in der sogenannten Normalität des Alltags. Oder im Wahnsinn des Alltags. In den Sensationen des Gewöhnlichen. Zurück aus dieser Sensation des Aussergewöhnlichen.

Trägt unser wahres Ich im Leben eine Alltags-Maske und erst wenn man das Gesicht hinter einer gefertigten Maske verbirgt, kommt dieses wahre Ich zum Vorschein? Zeigen und Verbergen: Die Maske wirkt im wahrsten Wortsinn entlarvend und gleichzeitig verwandelnd.

Ohne Masken und Kopfbedeckung fehlt etwas.

Als um die Mittagszeit herum verschiedene Schuppel plötzlich ohne Masken zäuerlen und schellen oder einfach pausieren, wirken sie trotz der restlichen Tracht und Männern Frauenkleidern eher wie «normale» Zäuerli- oder Trachtengruppen. Etwas vom Zauber der Totalverkleidung ist weg. Die Chläuse werden quasi zu «normalen» Menschen, die zusammen singen, schellen und tanzen. Was beweist, dass die Kostümträger zu dem werden, was sie darstellen: zu dämonischen Naturgeistern beispielsweise die Wüeschte. Zu zauberhaften Gute Welt-Gestalten, die Schöne.

Zwei verschiedene Schuppel Schöni beim gemeinsamen Zäuerlen, mit und ohne Maskerade.

Oder wie es das «Buch der Symbole» (Taschen, Köln 2011) ausdrückt: Sobald der masketragende Mensch nicht mehr zu erkennen ist, verwandelt er sich in die archetypischen Bilder, die die Maske evoziert. Weiter heisst es da: Da die Maske zwischen einem Ich und der Welt steht, hat sie eine duale Natur: Sie schaut nach innen und nach aussen. Eine Maske kann verkleiden, bedecken, verschleiern, lügen, einnehmen, befreien, enthüllen, projizieren, beschützen, verleugnen, bewusst machen, täuschen, distanzieren, verkörpern und verwandeln. […] Dieser gestaltwandelnde Aspekt von Masken bietet rituellen Zugang zu Erfahrungsebenen. die dem bewussten Denken normalerweise nicht verfügbar sind. Das kann sich belebend, aber auch Furcht einflössend auswirken. Der verängstigende Aspekt von Stammesinitiationen oder kultischen Initiationsriten ist zur Disziplinierung und Festlegung von Verhaltensweisen gedacht, damit die kollektive Stagnation aufrechterhalten wird. Eine ähnlich einschüchternde Seite hat die Identifikation mit unserer Persona, unseren zeitgenössischen <Stammesrollen> – jenen Masken wie <Ehepartner>, <Arzt>, <Handwerker>, <Künstler>, <Mutter>, mit denen wir unsere Welt betreten und in ihr Leben.

Pause muss sein – der Groscht kann bis 30-40 kg wiegen.

Gerade bei den Urchigsten, den Wüeschte, wird auch das zu oft überwunden geglaubte Animistische in uns angesprochen. Das tierisch Unheimliche, das Urtümliche. Verstärkt durch die archaischen Schellenklänge. Naturchläuse stellen eine Verbindung her zu den unzähligen, uralten Geistern der Natur, die uns die monotheistische Kirche ja scheinbar ausgetrieben haben will. Dafür wurde der sogenannte Aberglauben in die Welt gesetzt, der falsche Glauben. Irrglauben. Nichtsdestotrotz kitzeln diese als lebende Büsche getarnten Menschen mit ihren kaum sichtbaren, starr nichtblickenden Maskengesichtern an unseren urtümlichsten Instinkten. In ihnen tritt hervor, was uns beispielsweise in afrikanischen Masken und Ritualen begegnet und von dem wir uns zumindest weit entfernt zu haben meinen: das Magische. Natürlich: Auch der als Baum getarnte Römer Pfifficus aus dem Asterix-Band «Der Papyrus des Cäsar» ist nicht weit.

Wo die Büsche tanzen, sind die Wüeschte unterwegs.

Magie und Reptilienhirn

Resonanzraum des Magischen ist der evolutionsgeschichtlich älteste Teil unseres – Veganer bitte weglesen! – unter anderem durch Fleischkonsum massiv grösser gewordenen Gehirns: der Hirnstamm, auch Reptilienhirn genannt. Und im besten Fall erinnern uns die Wüeschte daran, dass der Mensch eben die Natur – deren Teil wir sind – doch nicht so ganz zu unterwerfen vermag, wie ers gerne glaubt. Gerade in unserern schwierigen Zeiten eine möglicherweise überlebenswichtige Erkenntnis, um den Rank in Sachen Klima und Umwelt zu kriegen. Aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse stammen wir ja alle nicht von Adam & Eva ab, sondern von LUCA (Last Universal Common/Cellular Ancestor), einem angenommenen Ur-Einzeller, aus dem alles irdische Leben entstanden sein soll und deren Stufen wir als mal befruchtetes Ei ab der ersten Zellteilung durchlaufen. – Oha, jetzt spinnte abe endgültig, woschinli es Quöllfrisch zvil gschnappet ond welewäg öberigschnappet! Herisou äfach! Die spinnen, die Usserrödle Zürche! (Hier gehts zum Quöllfrisch unterwegs-Beitrag «Paläobier in gesalzener Holobiontenkacke – der grosse Jahrtausende-Rückblick in die Zukunft».)

Im Gegensatz zu gewissen Fasnachtsfiguren verbreiten die Wüeschte des hiesigen Silvesterchlausens nie Schrecken, sondern wünschen Glück und folgen ausnahmslos den Regeln der strengen, rituellen Choreografie, die für alle Chlaustypen dieselbe ist: Voraus läuft der Vorrolli in Frauenkleidern (Rollewiib, mit Blume im Larvenmund), dann folgen meistens vier Männer (Mannevölcher, Schellechläus) mit immer grösser werdenden Doppelschellen auf Brust und Rücken, am Schluss trifft der ebenfalls Frauenkleider und Blume im Larvenmund tragende Nachrolli ein. Teilweise wird es fast kirchenglockenlaut.

Trotz der eindrücklichen Lautstärke klingen die wunderbar gearbeiteten Schellen und Glocken aber wunderbar kernig und obertonreich. Und die Bewegung der Rollis, um die Rollen schön laufen zu lassen, hat öfters einen etwas obszönen Anstrich. Wartet nur, bis die Woken entdecken, dass hier Männer sich Frauenröck-Kultur schamlos aneignen und dazu im übertragenen Sinn vielbrüstig die Rollen schütteln! Zwischen dem Geschell wird bei den besuchten Häusern gezäuerlet, in der Regel dreimal. Dazwischen bieten die Hausbewohner Getränke an, die wegen der Masken mit Schlauch getrunken werden. Danach wünschen ihnen die Schuppelmitglieder in derselben Reihenfolge wie sie eingelaufen sind «E guets Neuis» und ziehen einzeln schellend von dannen. Sie verschellen, im wahrsten Sinn des Wortes. Danach sind sie dann bis nächstes Jahr verschollen.

Was wirkt, als sei es von alters her so, unterliegt – wie unsere Lebenswelt – einem steten Wandel, wie wir aufgrund der bisherigen Geschichten schon gemerkt haben.

Vorrolli mit Telldarstellung.

Dazu eine Passage aus «Alltag und Fest in der Schweiz. Eine kleine Vokskunde des kulturellen Wandels.» von Marius Risi: Der Brauch zählte zu denjenigen gesellschaftlichen Sphären, in denen Normierungen, verbindliche Verpflichtungen und soziale Disziplinierungen fest- und durchgesetzt wurden. Mit der Ausprägung der modernen Gesellschaft sind dann diese Gesetze der Brauchhandlung, wie sie im agrarischen Umfeld noch von Relevanz waren, abgelöst worden. Die neuen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Bedingungen beeinflussten die Brauchpraxis in besonders starkem Ausmass. Bezeichnenderweise hat die grosse Mehrheit der heute prominenten Festbräuche der Schweiz ihre wesentliche Grundstruktur im 19. Jahrhundert erhalten (Basler und Luzerner Fasnacht, Berner Zwiebelmarkt, St. Galler Kinderfest, Zürcher Sechseläuten). Doch im Verlauf des 20. Jahrhunderts erfuhren diese Bräuche teils beträchtliche Umwandlungen.

Nachrolli mit Walter und Apfel.

Und weiter: Waren noch anfangs des Jahrhunderts vielfach die Angehörigen bestimmter Altersklassen, Berufsgruppen oder Nachbarschaften die Träger eines Brauchs oder Fests, übernahmen im Zuge des gesellschaftlichen Strukturwandels andere Formierungen deren Durchführung. Örtliche Vereine, Freiwillige Feuerwehren, Trachtenvereine oder (Fremden-)Verkehrsvereine spielten hier eine hervorragende Rolle. Oftmals konstituierten sie sich eigens für die Organisation und Pflege brauchtümlicher Veranstaltungen (zum Beispiel Fasnachtsgesellschaften oder Zünfte) oder stellten diese zumindest ins Zentrum ihrer Aktivitäten.Das Brauchgeschehen erhielt dadurch neue Akzentuierungen. Die Aspekte der Geselligkeit, der Unterhaltung und des Vergnügens traten in den Vordergrund, während die Aspekte der Sozialdisziplinierung an Verbindlichkeit verlor.Vor allem aber breitete sich diese neuartige Lust am Spektakulären und Ungewöhnlichen aus, die bis heute ungebrochen ist und tendenziell auch noch weiter zunehmen wird. Ästhetische Attraktivität und visuelle Präsentierbarkeit sind jedenfalls Leitkriterien der Brauchgestaltung jüngster Zeit. Vieles ist auf einen gewissen <Show-Effekt> hin angelegt. Brauchelemente wie Kostumierung, Verkleidung, Maskierung oder Feuerspiele haben Konjunktur. Die Zuschauer sind inzwischen oft sogar wichtiger als die eigentlichen Akteure geworden, was sich in der volkskundlichen Literatur im Begriff der <Schaubräuche> niedergeschlagen hat. Die Betonung des Visuellen erschöpft sich aber nicht in ihrem Unterhaltungswert. Sie stehen auch ganz im Dienst der kulturellen Produktion von lokaler, regionaler und nationaler Identität. Bräuche und Feste leisten ihren festen Anteil an kollektiver Sinnkonstruktion, indem sie Zeichen emotionaler Zugehörigkeit im weitesten Sinn – also etwa von <Gemeinschaft>, <Heimat> oder <Nation> – effektvoll in Szene setzen.

The Quöllfrisch unterwegs- Silvesterchlausen-Movie 2023

Die idyllische Welt der Schöne

Die Schöne haben eine andere Wirkung. Sie strahlen keinerlei Unheimlichkeit aus, sind vielmehr lieblich; unheimlich schön. Sie tragen Samtkleider, einfache, rotbackige Larven mit und ohne schwarzem Klebebart und ihre mit tausenden von Glasperlen und vielen andern Materialien ins Satten Farben verzierten Hüte und Hauben zeigen unterschiedliche Szenen aus Alltag und Volksleben. Sie spiegeln in ihrer üppigen Buntheit und ornamentalen Strenge unser menschengemachtes Kulturleben perfekt wider als heile Welt, die noch in Ordnung ist, als verlorenes Paradies. Alles wird gut, weils immer gut war und früher immer besser. Viele Bauernhofszenen, von Menschen gepflegte Landschaften, der harte Alltag als Idylle. Bäume zersägen als lustvolle Heimatromanze. Es heisst, früher seien die Kostüme allgemein viel einfacher gewesen. Je nach Wetterperiode werden Hauben und Hüte mit Plastik geschützt, was natürlich die Pracht etwas mindert, um sie vor Wasserschaden zu schützen. Es heisst, früher seien die Kostüme allgemein viel einfacher gewesen. Und sowieso: Ohne steten Wandel und die Neuerungen in der Brauchtumspflege Ende 19. Jahrhundert gäbs nur die Wüeschte.

Noch em Räge schint d Sonne – oder au nöd

Das Ganzjahres-Aprilwetter ist auch in stetem Wandel und wechselt nach launig von Sonne zu Regen. Und umgekehrt. Manchmal öffnet der Himmel urplötzlich alle Schleusen. Aprilmässig auch bei Sonnenschein. Dann wieder versprüht Petrus feine Tröpfchen. Und immer nagt der Wind bis ins Knochenmark. So um 11 Uhr brauche ich dringend eine Aufwärmrunde – Zwetschge-Lutz ohne Zucker im Chlausebeizli Bösch. Klappt alles bestens, die Bedienung ist extrem freundlich, was bei dem Stress nicht selbstvertürli ist. Ein Schuppel zäuerlt und nimmt eine warme Mahlzeit ein.

Als ich mich wieder aufmache, komme ich kaum mehr durch die inzwischen im Rank vor dem Beizli um ein Schuppel Schöni versammelte Menschenmenge. Mit einem Schüblig vom Take Away in der Hand entdecke ich in der Garage des Wohnhauses neben dem Chlausebeizli die abgelegten Hüte des dort noch essenden Schuppel. Sönd Willkomm! lädt eine Tafel zur Besichtigung der in vielen Stunden gefertigten Kunstwerke. Auch in anderen Garagen lassen sich über Mittag die abgelegten Kostüme bewundern.

Und schon wieder schüttet es urplötzlich aus Kübeln. Also schnappe ich mir eine Portion heisse Marroni vom aufgetauchen Stand und rette mich unter ein schützendes Dach, von wo aus ich zuschauen kann, wie ein Schuppel das Groscht montiert, im Speziellen: die Rollis ihre Hauben aufsetzen – mit viel Unterstützung von Nichtchläusen. Gar nicht so einfach, das Unterfangen. Die Windeskälte kriecht längst wieder in alle Poren. Wind und Wetter benehmen sich aber auch wirklich zu garstig. Wahrscheinlich vielleicht eben doch wegen Freitag, dem 13ten. Noch eine 13 spielt einen Rugel: Um 13 Uhr bin ich derart durchfroren, dass ich mich auf den Retourweg mache. Wahrscheinlich beginnt ja jetzt das grosse Fest erst. Jedenfalls strömen mir ziemlich viele Menschen entgegen, als ich zum Bahnhof runterfröstle. Auch aus dem unter den Geleisen liegenden Dorfteil ziehen Schellenfetzen herauf.

Impressionen der angetroffenen Schöne & Wüeschte des Alten Silvesters 2023, ohne Worte gezäuerlt

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Freitag, der 13te, Silvesterchlausen Waldstatt, Happy End: E guets Neuis!

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